Die Wahrheit dahinter: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
mal?«
»So ungefähr.«
»Sie hat Abitur und einen Abschluß von einer Art teurer Töchterschule. Ein bißchen Kunstgeschichte und Kochkunst. Die Kunst, einen Tisch schön zu decken. Überhaupt viel Kunst. Sie stammt ja aus Australien, wie du weißt, aus einer gutbürgerlichen, aber nicht gerade reichen Familie. Jennifer ist wohl so eine Art von Frau, wie sich die Jungs aus dem Big Business oft aussuchen.«
»Na, du mußt es ja wissen«, sagte Annmari lächelnd. »So eine wie deine Mutter also.«
Silje achtete nicht auf sie.
»Jennifer Calvin Stahlberg könnte ›Mama‹ als Beruf angeben. Sie hat sich gewaltig zusammengerissen, als der Älteste plötzlich ins Zimmer kam, hat Erik gesagt. Der Kleine ist zehn und hätte eigentlich bei einem Freund sein sollen, während seine Mutter vernommen wurde, aber er war von dort weggelaufen. Jennifer wirkte ruhig, vernünftig und sehr besorgt um den Jungen, bis sie die Mutter des Freundes erreicht und den Kleinen wieder abgeliefert hatte. Und danach brach sie total zusammen. Sie kann kein Norwegisch. Sie hat in Norwegen keine wirklichen Freundinnen, sie kennt nur Leute, die sie durch ihre Repräsentationspflichten für ihren Mann kennengelernt hat, und die Eltern der Schulkameraden ihrer Kinder. Hier in Norwegen hat sie eigentlich gar keine Wurzeln. Zugleich lebt sie schon seit fünfzehn Jahren nicht mehr in Australien, sie hat Preben doch in Singapur kennengelernt. Ihre Eltern sind tot. Geschwister hat sie auch keine.«
»Aber jetzt hat sie jedenfalls einen Haufen Geld«, sagte Annmari und betrachtete die Kopie des handgeschriebenen Testaments. »Hier riecht es ganz schön angebrannt. Machen wir ein Fenster auf?«
Ohne auf Antwort zu warten, stellte sie das Fenster auf Kipp.
»Eigentlich bekommt ja nicht sie das Geld selbst«, korrigierte Silje. »Aber ich wußte nicht, daß das überhaupt erlaubt ist.«
»Was denn? Die eigenen Kinder zu enterben?«
»Ja.«
»Wir gewöhnlichen Sterblichen können das auch nicht«, sagte Annmari. »Dem Gesetz nach bekommen die leiblichen Erben einen Pflichtanteil. Zwei Drittel der gesamten Erbmasse.«
»Genau.«
»Aber nur bis zu einer gewissen Grenze. Eine Million, wenn ich mich nicht irre. Für euch Reiche ist das natürlich nur ein Klacks. Ihr könnt einfach festlegen, daß eure Kinder mit Kleingeld abgespeist werden.«
Nur selten ließ Annmari sich eine Gelegenheit entgehen, auf Siljes Reichtum anzuspielen.
Der Luftzug vom Fenster her war unangenehm. Silje schloß es, ohne zu fragen. Vorsichtig legte sie die Kopie des Testaments vor sich auf den Tisch.
»Eigentlich ist nicht Jennifer die Begünstigte, sondern ihr ältester Sohn. Carl-Christian bekommt nur das Minimum, auf das er Anspruch hat. Hermine bekommt verkaufte Aktien im Wert von fünf Millionen. Der Rest, also die gesamte Reederei, alle Grundstücke, Autos und Einrichtungsgegenstände fallen an den ältesten Enkel, mit Ausnahme von Kleinkram für seine Geschwister. Und der gute Hermann war wahrlich weitsichtig. Sollte Preben beim Tod seiner Eltern am Leben sein, sollte er alles bekommen. Im Falle seines Todes sollte das gesamte Erbe in eine Art Fonds umgewandelt werden, mit einem Verwalter, der sich um alles kümmert, bis der Junge …«
»Wie heißt er?«
»Hermann. Natürlich. Preben war offenbar auch ziemlich weitsichtig. Bei der Geburt des Kleinen hatte er seit vielen Jahren kein Wort mehr mit seinem Vater gewechselt. Trotzdem hat er zum ältesten Trick aller Zeiten gegriffen. Dieser Namenswahl eben. Na ja, jedenfalls soll der Knabe an seinem fünfundzwanzigsten Geburtstag alles übernehmen, unter allerlei Bedingungen.«
»Als da wären?«
»Daß er zum Beispiel BWL studiert haben muß. Und einen tadellosen Lebenswandel aufweist. Und … daß er nicht verheiratet ist und keine Kinder hat.«
»Keine Kinder hat? Das kann doch nicht wahr sein! Da will der Alte die Sippe ja noch aus dem Jenseits regieren.«
Das Fenster ging von selber auf, und eiskalte Luft drang ins Zimmer ein.
»Das klemmt«, sagte Annmari und versuchte, es wieder zu schließen. »Das ist fast nicht zuzukriegen.«
Silje zog ihre Wolljacke fester um sich zusammen.
»Dieser Mann hat die Familie in all den Jahren regiert«, sagte sie schaudernd. »Er hatte offenbar nicht vor, so bald damit aufzuhören …«
»Weswegen Carl-Christian durch diesen Mord streng genommen nicht viel zu gewinnen gehabt hätte«, sagte Annmari langsam. »Keine Spur von einem Motiv.«
Sie blieben sitzen und
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