Die Wahrheit dahinter: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
schauten einander lange in die Augen. Silje fiel auf, daß Annmari eigentlich grüne Augen hatte, mit braunen Pünktchen.
»Wenn er es gewußt hat«, sagte sie endlich. »Das steht ja nicht fest. Das Testament ist vor weniger als vier Monaten unterzeichnet worden. Und der Vater und sein jüngerer Sohn haben seit damals kaum noch miteinander gesprochen.«
»Aber Jennifer wußte es«, sagte Annmari, ohne Siljes Blick loszulassen. »Jennifer wußte von diesem Testament, das ihren Sohn begünstigte.«
Silje schüttelte energisch den Kopf.
»Nein, Annmari. Sie kann das nicht gewesen sein. Sie war verreist. Mit ihren drei Kindern.«
»Man kann Mörder mieten. Auch hier in Norwegen.«
»Herrgott, Annmari!«
Silje schlug sich vor die Stirn und verdrehte die Augen.
»Sie kennt hier keinen Menschen. Sie kann kein Norwegisch, hat keinen Bekanntenkreis! Sie …«
»Sie ist schließlich keine Idiotin«, fiel Annmari ihr wütend ins Wort. »Die Frau kann sich doch im Ausland Hilfe geholt haben, was wissen wir schon!«
»Und dann bestellt sie jemanden, der ihren Mann und ihre Schwiegereltern umbringt, den Vater und die Großeltern der Kinder! Obwohl es keine, wirklich keine Hinweise auf mehr als absolut banale Konflikte zwischen Jennifer und Preben gibt! Keine Seitensprünge, kein Streit um Geld, kein …«
»Wir arbeiten seit vier Tagen an diesem Fall, Silje. Seit vier Tagen! Wir wissen so gut wie nada über diese Familie!«
»Nada? Nennst du das hier nada?«
Silje schlug mit der flachen Hand auf die drei dicken Ordner, die zwischen ihnen auf dem Tisch standen. Einer kippte um, und ein Ringbuch und vier vollgestopfte Umschläge fielen auf den Boden.
»Verzeihung«, fauchte sie. »Aber es muß doch Grenzen geben. Es darf nicht sein, daß jemand sofort in einen Wirbelwind aus Verdächtigungen hineingezogen wird, wenn Leute umgebracht werden, die ihm nahestehen.«
»Das Problem ist wohl eher das Gegenteil«, sagte Annmari ruhig. »Ich stimme Hanne Wilhelmsen zu. Wir beißen uns zu oft fest. Wir operieren mit zu wenigen Verdächtigen. Oft jedenfalls. Findest du nicht?«
Ihre Stimme klang ruhig, wies nicht einen Hauch von Sarkasmus auf. Trotzdem fühlte Silje sich provoziert. Sie begriff ihre plötzliche Wut nicht, ihren Zorn, den sie stellvertretend für Jennifer Calvin Stahlberg empfand. Silje war dieser Frau nicht einmal begegnet, Erik hatte zwar nach seinem Besuch am Vortag ungewöhnlich stark berührt gewirkt, und rein objektiv gab es allen Grund zu tiefem Mitgefühl mit dieser Mutter von drei Kindern, die jetzt verlassen in einem fremden Land saß. Trotzdem war Jennifer nur eine von vielen, die inzwischen in Oslos spektakulärsten Mord seit Menschengedenken verwickelt waren. Vielleicht identifizierte Silje sich mit der Frau als Mutter. Vielleicht brachte sie Verständnis auf für das Gefühl, anders und einsam zu sein, denn Jennifer befand sich, ganz auf sich selbst gestellt, in einer Lage, die keine von ihnen auch nur vage nachempfinden konnte.
»Eigentlich bist du deshalb wütend, nicht wahr?«
Annmari hielt ihr zwei Boulevardzeitungen vom Vortag vor das Gesicht. Norwegens meistgelesene Zeitung hatte auf der ersten Seite ein riesiges Foto, das Jennifer und die Kinder zeigte, die auf dem Flughafen soeben den Zoll passierten. Jennifer starrte sie aus roten, weit aufgerissenen Blitzlichtaugen an. Ein dunkelhaariger Junge lächelte zaghaft in die Kamera, die Jüngste dagegen klammerte sich an die Hand der Mutter und schien bitterlich zu weinen. Das dritte Kind war hinter der Mutter fast verborgen. Nur ein weißer Turnschuh mit losen Schnürsenkeln, die unter einem dunkelblauen Hosenbein hervorlugten, war zu sehen.
»Ja, vielleicht«, sagte Silje und seufzte fast unhörbar. »Ich bin reichlich sauer. Warum machen sie das? Warum erlauben wir das? Ich meine, man muß doch mal an die Kinder denken! Sie haben gerade erst ihren Vater verloren, und dann … Ich begreife das einfach nicht. Wie sind sie dazu nur in der Lage?«
»Der neue Überwachungsdienst«, sagte Hanne Wilhelmsen, die plötzlich in der Tür stand, und lachte trocken. »Der alte POT wurde zu PST , und PST ist gefesselt und geknebelt und kontrolliert. Die Medien haben die Herrschaft übernommen. Und schrecken vor nichts zurück. Für sie gelten keine Regeln. Sie haben illegale Archive, sie bestechen, überreden, setzen ihre Informanten unter Druck und kitzeln alles aus ihnen heraus. Sie schreien, treten um sich und heulen, sowie auch nur das Wort
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