Die Wahrheit dahinter: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
Ohrläppchen.
»Wie alle anderen hier im Haus«, sagte sie langsam, »finde ich es sehr wahrscheinlich, daß ein Familienmitglied die Morde begangen hat. Aber es müssen nicht unbedingt alle drei gewesen sein. Und wie bei allen anderen Morden müssen wir das Motiv für diese Tat finden. Wenn wir das haben, dann haben wir auch den Täter.«
»Oder die Täterin«, sagte Puntvold.
»Oder die Täterin. Bei Carl-Christian schreien die Motive ja geradezu, aber ich arbeite schon lange genug hier, um zu wissen, daß es … daß es in allen Familien Geheimnisse gibt. Immer. Ich versuche nur, mich vom Offensichtlichen nicht irremachen zu lassen. Und ich will … ich will wissen, was Sidensvans am Donnerstagabend in der Eckersbergs gate zu suchen hatte. Nur dann wird das Bild des Verbrechens komplett, und wir können das Motiv finden.«
Der Kriminalchef lachte laut und schlug die Hände zusammen.
»Du bist ja noch besser, als behauptet wird«, sagte er kichernd. »Geh jetzt. Und danke, daß du gekommen bist.«
»Keine Ursache«, murmelte sie verlegen und ging.
Silje Sørensen gähnte laut und lange. Ihr liefen Tränen über die Wangen, und sie lächelte verlegen und versuchte dann noch einmal, sich auf ihre Papiere zu konzentrieren.
»Mein Kleiner schläft im Moment so schlecht«, erklärte sie dabei. »Asthma. Heute nacht mußte er schon inhalieren. Es liegt an dieser Kältefront, und …«
»Mmm.«
Polizeijuristin Annmari Skar fuhr sich mit den Fingern durch die angegrauten Haare und schüttelte den Kopf.
»An sich ist es komisch, daß niemand irgend etwas gesehen hat«, sagte sie, ohne den Blick zu heben. »Wir haben Hunderte von Tips bekommen, aber keiner davon, nicht ein einziger …«
Sie blätterte rasch weiter und hielt das Papier mit ausgestrecktem Arm von sich weg.
»Ich brauche eine Brille«, murmelte sie. »Meine Arme sind nicht mehr lang genug. Kein einziger Tip, der uns darauf bringen würde, wer in der Eckersbergs gate 5 ein und aus gegangen ist. Wirklich seltsam.«
»Nicht unbedingt«, sagte Silje und gähnte wieder. »In einer Stadt bekommt man so wenig mit. Wir kümmern uns um nichts, wir schauen nicht richtig hin. Wir befriedigen unsere Neugier auf Leben und Leiden der anderen durch Illustrierte und Boulevardpresse. Es ist so, als ob … es sieht fast so aus, als habe der Intimitätsterror gegen die Promis uns weniger aufmerksam für unsere eigene Umgebung werden lassen. Es war natürlich Pech, daß die Klatschbase der Straße gerade an dem fraglichen Abend zum Bingo war. Sie hat übrigens ein Kilo Kaffee und einen Gutschein für ein Warenhaus gewonnen. Und ist überglücklich.«
Sie lächelte kurz und fügte hinzu:
»So was merkt man sich. Herrgott!«
»Das ist ja gerade das Problem«, sagte Annmari frustriert. »In so einem Fall werden wir mit total unwichtigen Tatsachen zugeschüttet. Es wird wie ein Puzzlespiel mit viel zu vielen Stücken. Unmöglich zu legen.«
»Schwierig jedenfalls.«
Eine Kerze in einem roten Holzleuchter fauchte auf der schmalen Fensterbank. Sie war fast heruntergebrannt. Schon hatte sich die Dunkelheit über Oslo gesenkt. Die flackernde Flamme spiegelte sich in der Fensterscheibe wider. Plötzlich fing die Manschette Feuer. Christrosen aus Papier und rote Pappbeeren loderten auf. Silje packte eine halbvolle Teetasse und goß die Flüssigkeit über dem kleinen Feuer aus, das bereits fast die ganze Fensterscheibe mit Ruß bedeckt hatte.
»Das wär ja was gewesen«, sagte Annmari erschrocken und starrte den feuchten Flecken an, der jetzt unter dem Fenster die Wand hinunterwanderte. »Polizeijuristin steckt in Anfall von Weihnachtsstimmung die Wache an. Danke.«
»Solche Manschetten sind lebensgefährlich«, sagte Silje und versuchte, das Ärgste mit einer Serviette wegzuwischen.
»Das weiß ich doch. Ich mach das nachher weg. Woher hast du das hier eigentlich?«
Sie schwenkte zwei Bögen Papier.
»Von Prebens Witwe, Jennifer. Sie ist am Samstag mit den Kindern aus London zurückgekommen und wußte, daß beim Osloer Nachlaßgericht ein Testament hinterlegt worden ist. Sie und die Kinder waren zum Weihnachtseinkauf in London. Waren zum Zeitpunkt des Mordes also verreist. Sie ist total fertig. Was ja auch kein Wunder ist. Auf so dramatische Weise zur Witwe mit drei Kindern zu werden … Erik Henriksen hat sie gestern besucht. Die Frau ist ziemlich … altmodisch. So hat er sich ausgedrückt. Ein Heimchen am Herd, gab es nicht so einen Ausdruck? Früher
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