Die Wahrheit dahinter: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
nachher nachgeschaut hab. Aber sonst gab’s keine Anzeichen für Eisfischerei. Und es war doch mitten in der Nacht. Ich hab noch nie von Leuten gehört, die mitten in der Nacht eisfischen.«
»Ich muß Sie noch einmal bitten, ein wenig langsamer zu erzählen. Fangen wir doch von vorn an.«
Der Student verspürte einen Stich von Spannung und warf einen Blick auf den Computer, um sich davon zu überzeugen, daß der Ton mitgeschnitten wurde. Dann nahm er sich einen leeren Zettel und fing wieder von vorn an.
»Von wo rufen Sie an?«
»Also, ich wollte eigentlich nur Bescheid sagen.«
»Und dafür sind wir wirklich dankbar. Aber wir müssen mit dem Anfang beginnen, okay?«
»Na gut«, sagte die Stimme, die jetzt weniger gehetzt klang.
Sieben Minuten darauf legte der Student auf und blieb in Gedanken verloren sitzen, obwohl das Telefon ununterbrochen klingelte.
Das Schlimmste war, daß er nicht mehr wußte, ob er sich auf Mabelle verlassen konnte. Er versuchte, sich einzureden, daß sein Mißtrauen an seiner Schlaflosigkeit lag. Seit Donnerstag hatte er kaum noch geschlafen. Das schwächte seine Urteilskraft und machte ihn skeptisch und besorgt, und das wußte er. Alle sind mir feindlich gesinnt, dachte er verzweifelt und starrte sein Spiegelbild über dem Badezimmerwaschbecken an. Er hatte abgenommen. Seine Augen standen noch weiter hervor, und ein streßbedingter Fettfilm hatte sein Gesicht überzogen.
»Mabelle«, sagte er heiser und versuchte, sein Kinn vorzuschieben.
Auf Hermine war natürlich kein Verlaß. Sie war immer das niedliche Kaninchen der Familie gewesen, war mal hierhin gehüpft, mal dorthin. Ihre Unberechenbarkeit hatte fast schon etwas Berechenbares. Mabelle dagegen war seine Verankerung im Leben. Auf sie war Verlaß. Auf sie war immer schon Verlaß gewesen.
Jetzt war er allerdings nicht mehr so sicher.
Diese Farce von Familienrat am Vorabend war zu einem teuflischen Weihnachtsfest geworden. Niemand hatte mit dem verwirrten und zutiefst verletzten Alfred reden wollen. Die entfernteren Verwandten konnten ihre Neugier kaum im Zaum halten, sie glotzten die Wohnung an und alles, was sich darin befand, und sprachen dabei leise in einem Tonfall miteinander, der nach Skandal und Schadenfreude klang. Besonders schwierig war es gewesen, Andreas loszuwerden. Der war erfolgsbewußt und eitel umherstolziert und hatte Carl-Christian ein wenig zu eifrig versichert, daß er von dessen Unschuld überzeugt sei. Als die anderen endlich gegangen waren, verlangte Andreas ein »Strategie-Gespräch«, wie er das nannte. Carl-Christian täuschte eine Ohnmacht vor, lächelte vom Boden her kränklich, zeigte eine ziemlich böse Wunde über dem Auge vor und bat, in Ruhe gelassen zu werden.
Als sie in Hermines Wohnung eintrafen, lag deren Anruf schon über zwei Stunden zurück.
Sie war nicht mehr zu Hause. Jedenfalls machte sie nicht auf. Sie ging auch nicht ans Telefon. Hermine war ganz einfach verschwunden, und Carl-Christian hatte keine Ahnung, was er jetzt machen sollte.
Mabelle wollte die Polizei alarmieren.
Mabelle begriff das nicht. Hermine saß auf einem neuen Testament. Hermine wußte als einzige von der unregistrierten Waffe in dem Safe in Kampen. Sie mußten mit Hermine sprechen, ehe die Polizei einen Grund fand, sie ein weiteres Mal zu vernehmen. Carl-Christian mußte wissen, was sie sagen würde, er mußte die vermißte Pistole ausfindig machen und sich das neue Testament sichern, von dessen Inhalt er bisher noch keine Ahnung hatte.
Hermine konnte die Pistole weggeworfen haben.
Natürlich hatte sie die Pistole weggeworfen.
Wohin wirft man eine Pistole?
Carl-Christian lachte verkrampft und biß sich auf die Lippen, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Langsam verteilte er Rasierschaum auf den Wangen. Er zeichnete mit den Fingern kleine Wege in den weißen Schaum, er zog sich den Schaum über die Nase, um die Augen; er bedeckte sein Gesicht mit Schaum.
»Was machst du denn da?«
Mabelle hatte sich total verändert. Er hatte es ja gewußt, daß der zerbrechliche, trauernde Mensch des Vorabends eine großartige Komödie gewesen war. Die meisten schienen ihr auf den Leim gegangen zu sein. Obwohl alle über den heftigen Konflikt in der Familie informiert waren, schien Mabelles überzeugende Darbietung die Familie in dem Glauben bestärkt zu haben, daß es doch Grenzen dessen gab, wozu ein Mitglied der Dynastie Stahlberg fähig wäre.
Mabelle stand die Selbstbeherrschung ins Gesicht geschrieben.
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