Die Wahrheit dahinter: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
vorsichtig.
»Passiert?«
Hanne machte es sich auf dem Sofa gemütlich und schob die Füße unter Nefis’ Oberschenkel.
»Passiert ist, daß ich den schönsten Heiligen Abend in meinem ganzen Leben verbracht habe. Und in gewisser Weise haben wir ja ein wunderbares zusätzliches Geschenk bekommen. Eine Art Kind. Das hast du dir doch gewünscht, Nefis. Ein Kind.«
Aus irgendeinem Grund lächelte Nefis nicht mehr. Sie hob ihr Glas an den Mund, ein Glas, das Liv ihr hingestellt hatte, mit Tomatensaft und Apfelsaft, sie trank lange, wie um ihr Gesicht zu verbergen.
»Und jetzt werde ich meinen Bruder anrufen und ihm erzählen, daß er ein homophober Idiot ist«, sagte Hanne, so zufrieden, daß sie noch immer nicht registrierte, daß Nefis fast keinen Alkohol mehr anrührte.
Der Heilige Abend war vorüber, die Gäste waren schon längst nach Hause gegangen. Alexander war früh eingeschlafen. Er hatte nur wenig gesagt, aber Hanne fand, daß das Zeit hätte. Immerhin wußten seine Eltern, wo er war. Alles andere konnte warten, es waren Schulferien, und Hanne freute sich darüber, daß der Junge auf jeden Fall eine Woche bleiben würde, vielleicht sogar länger. Sie hatte ihn den ganzen Abend beobachtet, heimlich, war mit Blicken seiner Hand gefolgt, wenn er das Glas zum Mund gehoben hatte, hatte gesehen, daß seine Finger sich genauso krümmten wie ihre, wenn er etwas in der Hand hielt.
Sie konnte nicht schlafen. Es war fast halb zwei.
Vor dem nach Westen gelegenen Fenster, das hinter dem Rollo fast verborgen war, blieb sie stehen und sah, wie in den Nachbarhäusern die Lichter eines nach dem anderen erloschen. Verwundert nahm sie eine Art zufriedene Unruhe an sich selbst wahr, ein rastloses Gefühl der Zugehörigkeit. Sie fröstelte und zog ihren Bademantel fester um sich. Ihr Atem zeichnete flüchtige Wolken auf die kalte Glasfläche.
Sie konnte nicht schlafen, und arbeiten wollte sie nicht.
Wieder bekam sie eine Gänsehaut an den Unterarmen. Trotzdem blieb sie in dem fast unmerklichen Luftzug stehen.
Ich will nicht ins Büro, dachte sie, und so hatte sie noch nie empfunden.
Es gab soviel, was sie nie gewollt hatte, Situationen und Menschen, denen sie ausgewichen war. Aber nie der Arbeit. Das Polizeigebäude am Grønlandsleiret war immer Hannes Zufluchtsort gewesen. Nur nach Cecilies Tod, als sie auch dort keine Ruhe gefunden hatte, war sie geflohen, in ein Kloster in Italien und in ein halbes Jahr Einsamkeit.
Jetzt hatte sie so viel. Das Leben war erträglich. Ab und zu war es sogar ziemlich schön. Selten verspürte sie einen Anflug von Glück und nahm sich vielleicht einen Tag frei.
Oder einige Stunden.
Aber aufgegeben hatte sie einen Fall noch nie.
Die Stahlberg-Morde machten ihr angst, und eigentlich wollte sie nichts damit zu tun haben. Sie wollte sich freinehmen. Mit Alexander zusammenzusein hieße, sich Zeit für sich selbst zu nehmen. Alexander ist ein bißchen meine Vergangenheit und eine Art Zukunft, dachte sie, und von dem Fall Stahlberg will ich nichts wissen.
Als dieser Gedanke erst einmal ganz zu ihr durchgedrungen war, fror sie erst recht. Von der Stuhllehne hinter sich nahm sie eine Decke und legte sie sich um die Schultern. Aus irgendeinem Grund blieb sie aber weiterhin am Fenster stehen und starrte hinaus in das spärliche Licht der Straßenlaternen. Die Schatten der Bäume zeichneten sich scharf auf dem feuchten Asphalt ab, und der Wind fegte herbstlich durch die Straße. Im Moment gab es starke Temperaturschwankungen. Am Vortag war alles weiß verschneit gewesen. Jetzt schwamm schon wieder totes, verfaultes Laub in den schmutzigen Schneeresten und dem Schmelzwasser auf dem Bürgersteig.
»Vier Menschen«, flüsterte sie sich ihrem eigenen bleichen Spiegelbild im Glas zu. »Wer bringt vier Menschen auf einmal um?«
Niemand. Nicht in Norwegen. Nicht in Oslo, in Hannes Polizeidistrikt, nicht in diesem Land, wo fast alle Morde die tragischen Folgen von Alkohol und fatalen Streitereien waren.
Aber trotzdem hatte jemand es getan.
In der Tasche ihres Bademantels lag das Mobiltelefon, und ohne zu zögern wählte sie die Nummer. Es klingelte fünf mal, und als sie die Verbindung schon unterbrechen wollte, um nicht an die Mailbox weitergeleitet zu werden und einen neuen Versuch machen zu müssen, nuschelte am anderen Ende der Leitung jemand:
»Hallo …«
»Billy T.«, sagte Hanne, sie ertappte sich dabei, daß sie ganz leise sprach, als könne sie die anderen durch dieses vom Wohnzimmer
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