Die Wahrheit dahinter: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
Wochen war Unn gestorben. Ohne Unn war Weihnachten nichts. Sie hatten nie Kinder gehabt. Ohne Unn hatte nichts einen Sinn. Die Weihnachtstage würden vorübergleiten wie alle anderen Tage; ebenso inhaltslos wie die leeren Flaschen, die sich in der Küche nur so türmten.
Er füllte das Glas fast bis an den Rand.
Das Buch, das er gerade las, war schlecht.
Ab und zu versagten seine Augen. Er brauchte sie aber immer nur für einige Sekunden zu schließen, dann war alles wieder gut. Auch sein Gedächtnis funktionierte nicht mehr so gut wie früher. Das machte ihm schon größere Angst. Anfangs, vor vielleicht einem Jahr, hatte er nur kleine, praktische Dinge vergessen. Es konnte vorkommen, daß er in der Küche stand, ohne zu wissen, was er dort wollte. Es war eigentlich nur eine gewisse Zerstreutheit gewesen, die mit der Zeit aber schlimmer geworden war. Jetzt fiel es ihm manchmal schwer, sich an den Inhalt eines eben erst gelesenen Buches zu erinnern. Deshalb kennzeichnete er jetzt den Abschluß seiner Lektüre; ein rotes Kreuz auf der letzten Buchseite bedeutete, daß er durch war. Nun aber hatte er Angst davor, ein Buch aufzuschlagen. Angst davor, das rote Kreuz in einem Buch zu finden, das er für ungelesen gehalten hatte. Deshalb hielt er Ausschau nach anderen Systemen. Er teilte die Literatur in Stapel ein, die er gemäß immer neuen und gleich wieder vergessenen Mustern auslegte. Der Wohnzimmertisch war zu einer Art Archiv geworden, und die Mühe, darin Ordnung zu halten, machte ihn nervös und frustrierte ihn.
Im Haus war es still. Der Lümmel aus der Wohnung über seiner, der Knabe, der bis zum frühen Morgen Feste veranstaltete und nicht einmal die Tür öffnete, wenn jemand sich darüber beschweren wollte, war verreist. Backe hatte gesehen, wie er am Tag vor dem Heiligen Abend Gepäck in sein Auto geladen hatte. Oder am Heiligen Abend selbst. Er war sich nicht sicher, und es konnte ja eigentlich auch egal sein.
Die Nachbarn von gegenüber waren tot.
Er trank und hustete.
Sie waren jedenfalls unsympathisch und arrogant gewesen. Aber Frau Stahlberg vielleicht nicht. Sie war ihm eigentlich ziemlich unterdrückt vorgekommen. Henrik Backe hatte diese Frau immer mit einer gewissen Verachtung betrachtet, sie war so servil. Servilität ärgerte ihn, Servilität erinnerte ihn an die Selbstvorwürfe, die er sich machte, seinen Kniefall, den Verrat, den er niemals vergessen konnte. Nicht einmal durch Alkohol, den verdammten Schnaps. Turid Stahlberg war servil gewesen, und er hatte sie nicht leiden können. Ihr kleinlautes Lächeln zum Beispiel, mit dem sie sich an die Wand drückte, wenn sie einander im Treppenhaus begegnet waren, unerträglich.
Hermann Stahlberg war immerhin nicht unterwürfig.
Henrik Backe schnaubte verächtlich und trank weiter.
Unn war tot, und das Leben war zu Ende. Er konnte nur noch warten. Das Trinken, gegen das er so verbissen gekämpft hatte, ein nutzloser Kampf in viel zu vielen Jahren, konnte die Wartezeit verkürzen. Also trank er.
Jetzt gab es auch niemanden mehr, auf den er Rücksicht nehmen mußte. Er lachte plötzlich und schrill.
Unn war nicht mehr da, niemand brauchte noch Schutz. Vor ihm und seinem Verrat.
Aber jetzt gab es niemanden, der ihm zuhören wollte.
Henrik Backe starrte überrascht und verwirrt das Buch an, das er in den Händen hielt. Es war ein Roman von Sigrid Undset. Den mußte er doch schon gelesen haben. Mit starren Fingern blätterte er zur letzten Seite weiter. Kein rotes Kreuz. Das konnte nicht sein. Er mußte das Buch gelesen haben, ehe er das System mit den roten Kreuzen erfunden hatte, ehe alles zum Chaos geworden war. Er wußte es sicher, aber worum es in »Kristin Lavranstochter« ging, konnte er trotzdem nicht genau sagen.
Die Uhr auf dem Nachttisch zeigte jetzt fast zwanzig nach sechs. Draußen war es dunkel.
Er begriff nicht so ganz, warum er immer noch den Schlafanzug trug. Es war doch längst Zeit zum Abendessen. Er würde eine Dose Spargelsuppe aufmachen. Darauf hatte er jetzt wirklich Appetit.
Es war so seltsam still überall, aber die Nachbarn waren ja auch tot.
Sølvi Jotun schlurfte in ihren viel zu großen Stiefeln durch den Schnee und fluchte, weil sie nicht das Auto genommen hatten.
»Ein bißchen frische Luft tut dir gut«, sagte Billy T. »Und mir auch.«
Sie zog ihren Pelzmantel enger um sich zusammen und hauchte in ihre Hände. Billy T. zog seine Handschuhe aus.
»Hier. Du kannst meine leihen.«
»Die sind ein bißchen zu
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