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Die Wahrheit dahinter: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)

Die Wahrheit dahinter: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)

Titel: Die Wahrheit dahinter: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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Einfach der Hypothese wegen. Stell dir das doch nur für einen Moment mal vor, Billy T.«
    »Ich stelle es mir vor«, sagte er müde am anderen Ende der Leitung. »Ich stelle es mir wie besessen vor.«
    »Ehre«, wiederholte sie langsam und kniff die Augen zusammen, etwas bewegte sich beim Kastenwagen. »Und dann muß von verdammt viel Ehre die Rede sein. Von einem höllischen Sturz, der vermieden werden soll. Durch den Mord an vier Menschen.«
    Billy T. gähnte am anderen Ende der Leitung demonstrativ und ausgiebig.
    »Können wir nicht morgen darüber sprechen«, bat er mit jämmerlicher Stimme. »Ich bin total fertig.«
    »Schon gut. Tut mir leid.«
    »Sag nicht dauernd, ›tut mir leid‹. Das macht mich so …«
    Sie beendete die Verbindung. Dann trat sie langsam vom Fenster zurück. Unter den Bäumen war jetzt kein Lebenszeichen mehr zu erkennen. Der Kastenwagen stand ganz still da, erst jetzt ging ihr auf, daß die Reifen platt waren und daß der linke Kotflügel Rostflecken aufwies. Inzwischen fielen wieder dichte Schneeflocken. Sie lösten sich in nichts auf, wenn sie den Boden berührten. Hanne lugte hinter dem Vorhang hervor, mit einem Auge, als konzentriere sie sich auf etwas, das ihr immer wieder entglitt.
    Männer brachten Frau, Kind und am Ende sich selbst um, der Ehre wegen. Weil eine Frau sie verlassen wollte. Es gab Männer, die auf einen Scheidungswunsch derart reagierten. Und tragischerweise gab es davon immer mehr. Sie handelten um der Ehre willen, wie behauptet wurde. Später, von anderen.
    Der Schande wegen, dachte sie.
    Ehre und Schande. Verwandte Begriffe, zwei Seiten einer Medaille. Abgegriffene Wörter, bei denen es eigentlich um die große Angst vor dem Fall ging, darum, etwas zu verlieren, das größer war als das Leben selbst. Nämlich den Rahmen, der dieses Leben umgab, das Dasein an Ort und Stelle hielt und die Position eines Menschen in bezug auf die anderen definierte.
    Niemand konnte einen Sturz ertragen, wenn der Sturz tief war. Manche nahmen sich dann das Leben; führende Wirtschaftsmänner und andere Prominente, scheinbar aufgrund von Bagatellen, von Umständen, die in einigen Jahren nur noch als Parenthesen in ihrem Leben erscheinen würden. Sie handelten so, um sich der Schande zu entziehen. Um ihre Ehre nicht zu verlieren. Manche brachten auch ihre Kinder um.
    Eine Gestalt tauchte dort unten auf, ein Mann. Er trat aus dem Schatten hinter dem vom Rost angefressenen Wagen hervor. Er blieb für eine oder zwei Sekunden stehen, ihr zugewandt; sein Gesicht war unter dem Schatten seiner Mütze nicht erkennbar. Dann senkte er den Kopf und ging langsam weiter.
    Für einen Moment überkam Hanne eine ganz fremde Angst. Sie faßte sich an den Hals und taumelte rückwärts ins Zimmer. Ihr Blut rauschte in ihrem Kopf. Sie schluckte, setzte sich, schluckte wieder und merkte plötzlich, daß ihre nackten Zehen bluteten; sie mußte sie an irgend etwas geschrammt haben. Der Schmerz ließ sie freier atmen. Sie sog ganz tief Luft ein und ließ sie dann langsam wieder entweichen.
    Zuerst wußte sie gar nicht, was ihr solche Angst gemacht hatte. Sie war sicher und geborgen in ihrer eigenen Wohnung. Der fremde Wanderer war mindestens fünfzig Meter von ihr entfernt gewesen, und nichts hatte darauf hingewiesen, daß er eine Waffe gehabt hatte. Als sie die Augen schloß und versuchte, ihre Beobachtung zu rekonstruieren, wußte sie nicht einmal genau, ob er zu ihr hochgeschaut hatte. Vielleicht hatte er hinter dem Wagen nur Wasser lassen wollen. Oder er hatte einen Spaziergang gemacht. Mit seinem Hund, obwohl Hanne keinen Hund gesehen hatte. Hunde mußten Gassi geführt werden, und das sogar in der Weihnachtsnacht.
    Sie brauchte eine Stunde, um endlich einzusehen, daß sie ganz einfach übermüdet war.

Mittwoch, 25.   Dezember
    Henrik Backe wurde früh wach. Im Mittwinter fand er die Tage verwirrend. Kein Morgenlicht verriet ihm die Uhrzeit. Er tastete auf dem Nachttisch nach seiner Brille. Der Wecker zeigte elf Minuten nach sechs. Zu früh um aufzustehen, zugleich aber wußte er, daß er nicht wieder einschlafen können würde. Nur mit der Schlafanzughose bekleidet ging er ins Badezimmer, um an seiner geschwollenen, ihn quälenden Prostata vorbei Urin aus sich herauszupressen. Danach holte er eine Flasche Cognac und ein großes Glas, ehe er sich wieder aufs Bett fallen ließ.
    Es war der Erste Weihnachtstag, aber das spielte keine Rolle. Es war kein wirkliches Weihnachtsfest geworden. Vor sechs

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