Die Wahrheit dahinter: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
»Ich trage die Hauptmomente vor, die wir in unserem möglichen Haftbegehren vorbringen müssen. Danach wird diskutiert. Unser Ziel muß es sein, eine Entscheidung zu fällen, und zwar vor …«
Sie schob ihren linken Ärmel hoch, hatte ihre Uhr aber im Büro vergessen.
»Vor vier Uhr«, sagte sie und ließ ihren Blick über die Versammlung schweifen. »Einverstanden?«
Ein beifälliges Murmeln erklang.
»Vor allem haben wir ein ausgesprochen plausibles Motiv«, sagte Annmari und schrieb mit schräger, kindlicher Schrift ›Motiv‹ auf die Folie des Overheadprojektors. »Ich habe eine Aktennotiz verfaßt, die euch hoffentlich vorliegt …«
Wieder wurde beifälliges Gemurmel laut, und alle außer Hanne und Håkon fingen an zu blättern.
»… und in der ich versuche, alle Meinungsverschiedenheiten zwischen Hermann und Turid Stahlberg einerseits und Carl-Christian andererseits zusammenzufassen. Ich kann jetzt vielleicht …«
Sie zögerte und ließ den Filzstift zwischen den Fingern ihrer rechten Hand herumwirbeln.
»Ich kann sicher dem Gang der Ereignisse ein wenig vorgreifen und mitteilen, daß ich gern diskutieren möchte, ob wir uns hier und jetzt an einem Haftbefehl gegen Mabelle versuchen sollten. Die Indizien sind in diesem Fall schwächer, andererseits ist die gegenseitige Identifikation bei diesem Ehepaar sehr stark. Ich werde noch darauf zurückkommen. Was die juristischen Konflikte innerhalb der Familie angeht, so gibt es Anzeichen für eine Art …«
Wieder verstummte sie und schien nach Worten zu suchen.
»… eskalierenden Krieg zwischen den Parteien«, fügte sie dann plötzlich und energisch hinzu. »Das Ganze fing an mit Kleinigkeiten, wie Diskussionen über Carl-Christians Gehalt und solchen Dingen, unmittelbar nach Prebens Rückkehr nach Norwegen. Seither schwingt das Pendel hin und her, allerdings in immer größerer Amplitude, möchte ich behaupten. Carl-Christians erster Versuch, seine Eltern vor Gericht zu bringen, resultierte aus einem relativ belanglosen Streit um ein Ferienhaus in Arendal. Dieses Haus befand sich seit drei Generationen im Besitz der Familie. Alle durften es nutzen, ohne daß das jemals vertraglich festgelegt worden wäre. Bis Hermann es für gut befand, Carl-Christian und Mabelle den Zugang zu verwehren. An sich eine Bagatelle, da das junge Paar ein eigenes Haus am Meer besitzt und nur selten in Arendal war. Ich habe den Eindruck, daß hier eins zum anderen führte und …«
Wieder legte sie eine Pause ein und trank einen Schluck. Hanne fiel auf, daß Annmari leicht schwankte und den linken Fuß ein wenig zur Seite setzen mußte, um das Gleichgewicht zu wahren.
»Warst du wirklich die ganze Nacht wach?«
Hanne hatte nie erlebt, daß Annmari sich dermaßen mit einem Fall identifiziert hatte. Es kam ihr vor wie eine Besessenheit, eine Manie. Nicht einmal Hanne selbst hätte jemals eine ganze Weihnachtsnacht im Büro verbracht. Annmari schien es als eine Frage ihres persönlichen Prestiges zu betrachten, daß die überlebenden Mitglieder der Familie Stahlberg so schnell wie möglich hinter Gittern landeten. Wieder verspürte Hanne diese unerklärliche Unruhe, die an Angst grenzte: Sie sah, daß zwischen Kriminalchef Puntvold und Annmari Skar eine Allianz entstanden war, die so exklusiv war, daß sie alle anderen ausschloß. Für diese beiden war der Fall schon gelöst. Die restlichen Ermittlungen galten da eher als Formalität. Ein notwendiger, aber nur noch zeitraubender Prozeß. Hanne ließ ihren Blick von Puntvold zu Annmari wandern und streifte dabei die Gesichter der anderen Anwesenden. Das reichte, um zu erkennen, daß alle auf derselben Seite standen.
»Warst du die ganze Zeit wach?« fragte sie noch einmal. »Die ganze Nacht?«
»Das schon«, sagte Annmari. »Aber das ist kein Problem.«
»Setz dich doch wenigstens.«
Als habe sie das nicht gehört oder als wage sie aus Angst vor einem Zusammenbruch nicht, sich zu setzen, sprach Annmari im Stehen weiter:
»Zwischen den Parteien hat es drei Streitfälle gegeben, zwei davon gehören jedoch zusammen, insofern es in beiden Fällen um Zugang zu Eigentum und dessen Nutzung ging. Der Streit um das Auto hat Mabelle für einige Stunden in eine Zelle gebracht. Der jedoch der weniger wichtige ist. Im entscheidenden Streitfall ging es um die Eigentumsverhältnisse in der Reederei.«
»Aber …«
Erik Henriksen sah aus wie eine Ampel, als er aufsprang, um sich etwas zu trinken zu holen; rote Haare, gelbes
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