Die Wahrheit dahinter: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
haben. Das ist so wahrscheinlich, daß wir fast schwören können, daß jetzt ein E kommt. Unser ganzes Rechtssystem baut auf einem solchen Gedankengang auf. Und das ist auch gut so.«
Sie schob die Hülse auf den Filzstift und wandte sich zu den anderen um. Erik hatte den Mund offenstehen und starrte das Alphabet an. Jens Puntvold kritzelte genervt auf einem Pappbecher herum und wirkte demonstrativ uninteressiert. Die beiden jüngsten Ermittler machten sich Notizen wie bei einer examensrelevanten Vorlesung. Silje drehte und drehte an ihrem Ring.
»Jeden Tag werden Menschen auf der Grundlage solcher Schlußfolgerungen zu Gefängnisstrafen verurteilt. Da solide, präzise und unwiderlegbare Beweise in unserem Geschäft eine Mangelware sind, müssen die Gerichte in der Regel aufgrund von Indizien über Schuld oder Unschuld entscheiden. Und ich …«
Sie hob die Stimme, um Håkons Einwand zuvorzukommen.
»Ich will das durchaus nicht kritisieren. Es ist so, und damit müssen wir leben. Daß A und B und C und D ganz zufällig hintereinander kommen, ist ja auch ausgesprochen unwahrscheinlich. Aber ich muß mich doch immer wieder fragen, ob unsere voreingenommene Einstellung zur Reihenfolge der Dinge, zu Konsequenz und Zusammenhang, unter Umständen nicht auch mißbraucht werden kann. Auf jeden Fall ist es vorstellbar.«
Wieder beugte sie sich zum Overheadprojektor um und schrieb in Großbuchstaben AHLZELLE auf eine neue Folie.
»Hier fehlt ein Buchstabe«, sagte sie und zeigte darauf. »Der erste Buchstabe. Und zwar?«
»K«, riefen alle.
»Sicher?«, fragte Hanne, sie konnte jetzt den Eifer der anderen spüren. »Seid ihr ganz sicher?«
»K für Kahlzelle«, sagte Erik. »Ist doch klar.«
»Na gut«, sagte Hanne und vervollständigte das Wort. »Also KAHLZELLE . Aber wenn ich nun behaupte, daß ihr das K nehmt, weil ihr bei der Polizei seid, was sagt ihr dann?«
»Worauf willst du eigentlich hinaus, Wilhelmsen?«
Der Kriminalchef runzelte die Stirn und schaute auf die Uhr.
»Ich will illustrieren, wie sehr man sich irren kann«, sagte Hanne säuerlich. »Ich versuche, da wir angeblich genug Zeit dafür haben, zu zeigen, wie wir eine Gruppe von gegebenen, aber nicht vollständigen Informationen genau so deuten, wie wir es am liebsten wollen. Der fehlende Buchstabe ist durchaus kein K. Sondern ein W.«
WAHLZELLE korrigierte sie und unterstrich den ersten Buchstaben dreimal.
»Was ist eine Wahlzelle?«, fragte Erik sichtlich verdutzt.
»Wenn hier ein Mensch vom Ordnungsamt gesessen hätte, hätte der sicher ein W vorgeschlagen«, sagte Hanne. »Ganz einfach, weil er selten was mit Kahlzellen zu tun hat, mit Wahlzellen aber in regelmäßigen Abständen.«
»Hier ist aber niemand vom Ordnungsamt. Und was zum Teufel ist eine Wahlzelle?«
Hanne nahm die Folie herunter.
»Das ist der abgetrennte Teil im Raum, in dem du auf dem Wahlzettel dein Kreuzchen machen kannst. Damit die Wahl auch geheim bleibt. Nicht, daß das hier eine Rolle spielte. Worum es mir geht, ist …«
»Ja, das möchte ich jetzt wirklich wissen!«
Jetzt war der Abteilungschef am Ende seiner Geduld angelangt.
»Was in aller Welt hat das mit dem Fall Stahlberg zu tun? Bei allem Respekt vor dir und dem Polizeichef möchte ich doch daran erinnern, daß wir hier am Ersten Weihnachtstag Überstunden schieben und sicher wichtigere Dinge zu tun haben, als uns mit Ratespielen zu amüsieren.«
»Dann eben nicht«, sagte Hanne. »Ich war schließlich nicht diejenige, die darauf bestanden hat. Eigentlich wollte ich jetzt zu Hause bei einem Weihnachtsessen sitzen.«
Sie legte die Filzstifte hin und versuchte, sich an Silje vorbeizuzwängen, doch die schob ihren Stuhl zurück an die Wand.
»Nein«, sagte Annmari so laut, daß Hanne zurückzuckte. »Schließlich muß ich das Haftbegehren beim Untersuchungsgericht vertreten. Ich finde Hannes Überlegungen interessant. Ich will mehr hören. Du kannst ja gehen, wenn du das für Zeitverschwendung hältst. Also, mach weiter, Hanne. Bitte.«
Der Abteilungsleiter wirkte restlos überrumpelt und hob zerstreut die Kaffeetasse zum Mund, um sie dann, ohne zu trinken, wieder abzusetzen.
» She’s pulling ranks«, flüsterte Erik Silje ins Ohr. »Verflixt!«
Das alles war eigentlich unerhört. Annmari war zwar Polizeijuristin und damit in Fragen der Anklage dem Abteilungschef der Polizei übergeordnet, aber es war doch viele Jahre her, daß die Juristen im Haus sich erfahrenen, ranghohen Beamten gegenüber
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