Die Wahrheit der letzten Stunde
»Extreme Situationen erfordern extreme Taten. Wir werden uns die Masse krallen, mein Freund. Wir werden die weltweit erste Antiwiederauferstehungsbewegung ins Leben rufen.«
»Wenn die Zuschauer dich nicht zu Hause im Fernsehen sehen wollen, Ian, warum sollten sie dich dann am Arsch der Welt sehen wollen wie beispielsweise irgendwo in Kansas?«
»Begreifst du denn nicht? Genau das ist der Knackpunkt. Anstatt Krüppel gehend und Blinde sehend zu machen, werde ich Betrügereien aufdecken. Ich werde diese ganzen angeblichen Wunder als Betrügereien entlarven. Du weißt schon - ich gehe mit Wissenschaftlern nach Lourdes und erbringe mit ihnen zusammen den Beweis, dass die Statue keine echten Tränen weint, sondern dass es sich um ein Kondensationsphänomen handelt. Oder ich decke den medizinischen Grund dafür auf, weshalb jemand, der achtzehn Jahre lang im Koma gelegen hat, plötzlich so gut wie neu wieder aufwacht.« Er beugt sich vor, grinsend wie ein Honigkuchenpferd. »Die Menschen glauben an Gott, weil sie keine andere Erklärung für diese >Wunder< haben. Das lässt sich ändern.«
Langsam erschien ein Lächeln auf James’ Lippen. »Weißt du«, sagt er schließlich anerkennend, »das ist gar keine schlechte Idee.«
Ian greift nach der Zeitung am Rand von James’ Schreibtisch. Einen Teil wirft er seinem Produzenten zu, den anderen behält er für sich und breitet die Seiten aus wie die Schwingen eines großen Vogels. »Ruf deine Sekretärin und schick sie zum Zeitungskiosk. Wir brauchen den Globe, die Post, die L.A. Times«, befiehlt Ian. »Irgendjemand hat gestern beim Abendessen das Antlitz Jesu auf seiner Pizza gesehen. Wir müssen ihn nur noch finden.«
30. August 1999
Colin White sitzt in seinem Anzug auf einer Bank auf dem Spielplatz und beobachtet Mütter und Kindermädchen, die unter dem Klettergerüst Kleinkindern nachjagen. Sein Eiersalat-Sandwich bleibt unberührt in Zellophan eingepackt. Ohne auch nur einen Bissen davon zu essen, stopft er es zurück in die braune Papiertüte vom Delikatessengeschäft.
Das kleine Mädchen auf dem Gerüst zum Rüberhangeln sieht Faith ein wenig ähnlich. Die gleichen Locken, auch wenn das Haar eine Spur dunkler ist. Sie schafft es immer wieder bis zur dritten Sprosse, rutscht dann ab und fällt hin. Colin erinnert sich, dass Faith es seinerzeit genauso gemacht hat: Sie hat es wieder und wieder probiert, bis sie es schließlich bis auf die andere Seite geschafft hat. Er würde gern näher herangehen, hält sich aber zurück. In diesen Zeiten würde er nur den Eindruck erwecken, er sei pädophil und nicht einfach ein Vater, der seine kleine Tochter vermisst.
Er fährt sich mit beiden Händen durch das Haar. Was zum Teufel hatte er sich bloß dabei gedacht? Die Antwort lautete, dass er gar nicht nachgedacht hatte, als er an jenem frühen Nachmittag Jessica mit zu sich nach Hause genommen hatte. Ballettunterricht ist keine so bombensichere Sache, er hätte damit rechnen müssen, dass Faith und Mariah möglicherweise früher zurückkamen als erwartet. Obwohl inzwischen drei Wochen vergangen sind, kann er sich noch in allen Einzelheiten an den Ausdruck auf Faith’ und Mariahs Gesicht erinnern, als Jessica aus dem Bad kam. Er weiß noch ganz genau, wie Faith durch ihn hindurchgesehen hat, als er sie schließlich in ihrem Zimmer eingeholt hat, so als wäre sie alt genug, um seine Ausreden und Erklärungsversuche zu durchschauen.
Auch Mariah hat er verletzt, andererseits hätte das Zusammenleben mit einer Frau, die sich schlicht weigert zu akzeptieren, dass ihre Ehe in der Krise steckt, auch die Geduld eines Heiligen auf eine harte Probe gestellt. Jedes Mal, wenn er versucht hat, Mariah zu zwingen, den Tatsachen ins Auge zu sehen, hat er beim Verlassen des Hauses am nächsten Tag gezittert, dass sie versuchen könnte, sich das Leben zu nehmen. Ursprünglich ist er nur mit Jessica ausgegangen, um jemanden zu haben, mit dem er reden kann.
Und jetzt liebt er sie.
Colin schließt die Augen. Was für ein Durcheinander.
Das kleine Mädchen auf dem Gerüst schafft es bis zur letzten Strebe und landet nur wenige Schritt von Colin entfernt in einer Staubwolke auf dem Boden. »Oh«, sagt sie und grinst zu ihm auf. »Entschuldigung.«
»Kein Problem.«
»Kannst du mir die Schuhe binden?«
Er lächelt. Eins hat er über kleine Kinder gelernt: Für sie sind Erwachsene austauschbar. Jeder etwa im Alter des Vaters kann undifferenziert gebeten werden, sich solcher
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