Die Wahrheit der letzten Stunde
wenig überrascht. »Davon gehe ich aus, Mariah. Ich kenne Richter Rothbottam schon eine ganze Weile, und bisher ist er immer fair gewesen.«
Ich knibbele an einem Häutchen an einem Finger. »Es ist nur, dass ich bisher kein großes Glück hatte mit unseren Gerichten«, entgegne ich vorsichtig. »Es fällt mir schwer, Ihnen das zu sagen, weil Sie Teil des juristischen Systems sind und es vermutlich gewohnt sind, dass jeder überzeugt davon ist, sein Standpunkt sei der einzig richtige. Aber es ist nun einmal so: Colins Wort steht gegen meins. Colin ist blitzgescheit; er ist außerdem sehr überzeugend. Vor sieben Jahren hat er es geschafft, jedem, den er kannte, plausibel zu machen, was in seinen Augen das Beste für mich war. Und jetzt behauptet er, er wüsste, was für Faith das Beste ist.«
»Aber Sie glauben, das besser zu wissen?«
»Nein«, widerspreche ich. »Faith weiß es.«
Kenzie macht sich eine Notiz. »Sie erlauben Faith also, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen?«
Ich erkenne sofort, dass ich etwas Falsches gesagt habe. »Ja und nein. Sie ist sieben. Sie bekommt keine M&Ms zum Frühstück, ganz egal, wie sehr sie auch betteln mag, und sie darf auch nicht im Tütü in die Schule, wenn es draußen schneit. Sie ist nicht alt genug, immer zu wissen, was richtig für sie ist, aber sie ist alt genug, manche Entscheidungen aus dem Bauch heraus zu treffen.« Ich blicke auf meinen Schoß. »Ich mache mir Sorgen, dass Colin der Meinung sein könnte, er kenne Faith besser als sie sich selbst, und dass es ihm gelingen könnte, auch sie davon zu überzeugen, dass er Recht hat, ehe ihn jemand aufhalten kann.«
»Darum bin ich hier«, sagt Kenzie knapp. »Oh … Ich wollte Ihnen nicht sagen, wie Sie Ihre Arbeit tun sollen…«
»Entspannen Sie sich, Mariah. Es ist nicht so, als würde alles, was Sie sagen, gegen Sie verwendet werden.«
Wieder senke ich den Blick. Ich nicke, aber im Grunde kann ich ihr nicht so ganz glauben.
»Was möchten Sie denn?«
Nach all diesen Jahren fragt endlich jemand nach meinen Wünschen. Und nach all diesen Jahren ist die Antwort immer noch dieselbe: Was ich will, ist eine zweite Chance. Diesmal allerdings mit Faith.
Aus heiterem Himmel fällt mir wieder etwas ein, das Rabbi Weissman sagte an jenem Tag, als ich mit Faith bei ihm war: Sie mögen eine Agnostikerin sein, eine nicht-praktizierende Jüdin … aber Sie sind immer noch Jüdin. Ganz so wie man eine unsichere oder selbstsüchtige Mutter sein mag … aber man ist immer noch eine Mutter.
Ich musterte Kenzie Van der Hoven eindringlich. Ich könnte mich als Mutter des Jahres präsentieren. Ich könnte ihr all das sagen, was sie hören will. Oder ich sage ihr die Wahrheit.
»Ich habe vor sieben Jahren versucht, mir das Leben zu nehmen, nachdem ich meinen Mann mit einer anderen Frau im Bett erwischt hatte. Ich konnte an nichts anderes mehr denken als daran, dass ich als Ehefrau versagt hatte, dass ich nicht schön genug war, einfach nicht… genug war. Colin erreichte meine Zwangseinweisung in Greenhaven, nachdem er dem Richter glaubhaft gemacht hatte, das wäre der einzige Weg, mich davon abzuhalten, einen weiteren Suizidversuch zu unternehmen.
Aber sehen Sie, er wusste nicht, dass ich schwanger war, als er mich einsperren ließ. Er hatte mir vier Monate meines Lebens genommen, mein Zuhause und mein Selbstvertrauen, aber ich hatte Faith.« Ich hole tief Luft. »Ich bin nicht mehr selbstmordgefährdet. Ich bin nicht mehr Colins Frau. Und ich bin ganz sicher nicht mehr die Frau, die so sehr unter seiner Fuchtel stand, dass sie sich von ihm zwangseinweisen ließ. Ich bin Faith’ Mutter. Das bin ich seit sieben Jahren. Aber man kann keine Mutter sein, wenn einem das Kind weggenommen wird, nicht wahr?«
Kenzie hat kein Wort von dem aufgeschrieben, was ich gesagt habe, und ich weiß nicht, ob das gut ist oder schlecht. Sie klappt mit ausdrucksloser Miene ihr Notizbuch zu. »Danke, Mariah. Vielleicht wäre jetzt der richtige Moment, um mit Faith zu sprechen.«
Als die Prozesspflegerin ins Wohnzimmer hinübergeht, kommt meine Mutter zu mir in die Küche. Ich versuche, gegen den Drang anzukämpfen, die beiden durch die offene Tür zu beobachten, auch dann noch, als Kenzie sich zu Faith auf das Sofa setzt und etwas sagt, das sie zum Lachen bringt. »Und?«
Ich zucke die Achseln. »Woher soll ich das wissen?«
»Was hast du ihr denn beispielsweise erzählt? Du musst doch einen Eindruck davon gewonnen haben, was sie von
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