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Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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dir hält.«
    Natürlich habe ich das, aber ich habe nicht die Absicht, ihr diesen mitzuteilen. Wenn ich der Prozesspflegerin nichts von Greenhaven erzählt hätte, wäre dieser Punkt spätestens bei der Verhandlung zur Sprache gekommen. Andererseits hätte diese Frau möglicherweise bis dahin etwas an mir gefunden, das sie bewundert und das meine Zwangseinweisung in ihren Augen wieder wettmacht. Die Wahrheit macht nicht immer frei; die Menschen ziehen es in der Regel vor, gefälligere, hübsch verpackte Lügen zu glauben. Kenzie Van der Hoven mag Mitleid für mich empfinden, aber das wird sie noch lange nicht dazu bewegen, mir Faith zu lassen.
    »Ich werde sie verlieren, Ma«, sage ich und berge das Gesicht in den Händen. Ich fühle ihre Hand auf meinem Rücken. Dann schließen sich ihre Arme um mich, und ich schmiege das Gesicht an die vertraute Brust, lausche dem Schlag ihres großen Herzens an meinem Ohr. Plötzlich spüre ich ihre Kraft, als ließe sich Zähigkeit von einem auf den anderen übertragen. »Wer sagt das?« murmelt meine Mutter und küsst mich auf den Scheitel.
     
    Kenzie hat für sich in ihrer Eigenschaft als Prozesspflegerin nur eine Regel aufgestellt: sich völlig frei machen von Erwartungen. Auf diese Weise wird sie auch nicht enttäuscht. Es kommt selten vor, dass ein Kind schon bei der ersten Begegnung auftaut; sie hatte schon zahlreiche Fälle, in denen es Tage gedauert hat, ehe das Kind auch nur unwillig »Hallo« gesagt hat. Bevor ein Kind sich nicht von Kenzies guten Absichten überzeugt hat, glaubt es selten daran, dass sie seine Freundin ist.
    Andererseits sollte ein Kind, das glaubte, Gott würde es besuchen, in der Lage sein, auch an Kenzies gute Absichten zu glauben.
    Kenzie ist so bodenständig zu wissen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Faith tatsächlich die mystischen Kräfte besitzt, die man ihr zuspricht, äußerst gering ist. Kinder in Faith’ Alter lieben Dinosaurier und Wale, weil sie so groß und mächtig sind, genau das, was ein siebenjähriges Kind nicht ist. Gott zu spielen, dürfte den gleichen psychologischen Ursprung haben.
    Faith sitzt neben ihr wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, den Kopf gesenkt und die Hände im Schoß verborgen. Offensichtlich ist dieses Kind schon vorher begutachtet, befragt oder beobachtet worden. »Faith, weißt du, weshalb ich hier bin?«
    »Hmm. Wissen Sie es denn nicht?«
    Kenzie lächelt. »Doch, ich weiß es. Jemand hat es mir erklärt.«
    Resigniert blickt Faith zu ihr auf. »Ich nehme an, Sie wollen mir Fragen stellen.«
    »Weißt du… ich wette, es gibt ein paar Dinge, die du lieber mich fragen möchtest.«
    Faith’ Augen weiten sich. »Wirklich?« Kenzie nickt. »Also werde ich hier wohnen bleiben?«
    »Möchtest du das denn?«
    »Sie haben gesagt, ich dürfte die Fragen stellen.«
    »Du hast Recht. Entschuldige. Ich kann dir diese Frage nicht beantworten, Faith. Das hängt von vielen verschiedenen Dingen ab, einschließlich dessen, was du möchtest.«
    »Ich will meiner Mami nicht wehtun«, entgegnet Faith so leise, dass Kenzie sich weit hinabbeugen muss, um sie zu verstehen. »Und ich will auch meinem Papa nicht wehtun.« Sie wendet sich ab. »Ich will…«
    Kenzie hält die Luft an und wartet gespannt. Aber anstatt etwas zu sagen, ballt Faith die Hände zu Fäusten und klemmt sie unter die Achseln. Kenzie starrt auf die feinknochigen Handgelenke und fragt sich, ob das kleine Mädchen vielleicht Schmerzen in den Händen hat. Vielleicht sollte sie Mariah rufen und ein anderes Mal wiederkommen.
    Kenzie weiß nichts über Stigmata, ob nun falsch oder authentisch. Wovon sie aber sehr wohl etwas versteht, ist, was es heißt, ein kleines Mädchen zu sein, das anders ist als alle anderen und sich deshalb vorkommt wie ein Fremdkörper.
    »Weißt du was?«, sagt Kenzie beiläufig. »Ich habe gar keine Lust mehr, zu reden.«
    Faith springt auf. »Heißt das, ich darf gehen?«
    »Ich denke schon. Es sei denn, du möchtest mit rauskommen.«
    »Raus … nach draußen?«, haucht Faith entzückt.
    »Draußen ist es wunderbar. Gerade so kalt, dass man ein Kitzeln im Hals fühlt, wenn man tief einatmet.« Sie legt den Kopf schräg. »Ich sage deiner Mami Bescheid. Na, was meinst du?«
    Faith mustert Kenzie einige Sekunden lang abschätzig, um zu ergründen, ob es sich vielleicht um einen grausamen Scherz handelt. Dann stürmt sie aus dem Zimmer. »Ich muss meine Turnschuhe holen. Warten Sie auf mich!«
    Lächelnd zieht Kenzie ihre

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