Die Wahrheit der letzten Stunde
White auf gar keinen Fall damit einverstanden war, dass ihre Tochter gefilmt wurde, und sie hat alles in ihrer Macht Stehende getan, um das zu verhindern. Sie ist sogar auf den Kameramann losgegangen, hat ihn angeschrien und zurückgestoßen. Eine wahre Löwenmutter.« Er lächelt entschuldigend. »Sie sehen also, ich kann Ihnen nicht helfen.«
Lacey lächelt honigsüß. Da wäre ich nicht so sicher, denkt sie.
2. November 1999
Kenzie van der Hoven entstammt einer Familie mit weit zurückreichender juristischer Tradition.
Ihr Urgroßvater war Gründungsmitglied von »Van der Hoven und Weiss«, einer der ersten Anwaltskanzleien in Boston. Ihr Vater, ihre Mutter und ihre fünf älteren Brüder sind allesamt derzeit dort beschäftigt. Bei ihrer Geburt waren ihre Eltern so sicher gewesen, dass auch das Nesthäkchen ein Junge sein würde, dass sie es bei dem Namen beließen, den sie bereits ausgesucht hatten.
Sie war als Kenneth aufgewachsen, was nicht nur ihre Lehrer furchtbar verwirrt hatte, und so hatte sie schon früh versucht, ihren Namen abzukürzen, worauf ihre Eltern sich jedoch nie eingelassen haben. In die tiefen Fußstapfen aller anderen Familienmitglieder tretend, studierte sie in Harvard Jura, wurde Rechtsanwältin und vertrat bei genau fünf Prozessen Mandanten, bevor sie entschied, dass sie lange genug den Erwartungen anderer genügt hatte. Sie ließ ihren Namen offiziell in Kenzie umändern und wurde Prozesspflegerin, eine vom Gericht bestellte Anwältin, die während laufender Sorgerechtsverfahren die Interessen des Kindes vertrat.
Kenzie hat schon früher für Richter Rothbottam gearbeitet und betrachtet ihn als fairen Mann - wenn auch mit einer Schwäche für Broadway Musicals, in denen Shirley Jones aufgetreten ist. Und so hat sie, als der Richter sie am Vortag anrief, spontan zugesagt, den Fall White zu übernehmen.
»Ich muss Sie aber warnen«, hat der Richter gesagt. »Das wird ein Riesenzirkus.«
Und als Kenzie sich jetzt einen Weg durch die Menge bahnt, die sich vor dem White-Haus eingefunden hat, wird ihr klar, was er damit gemeint hat. Bis jetzt hatte sie noch keinen Zusammenhang hergestellt zwischen dem Namen White und der religiösen Hysterie in New Canaan - die meisten Zeitungen, die sie selbst las, hatten Faith nur als »das Kind« bezeichnet, um zumindest etwas von der Intimsphäre der Minderjährigen zu schützen. Aber das … also, das ist unbeschreiblich. Kleine Gruppen von Menschen kampieren mit Zelten vor dem Grundstück und machen sich auf Campingöfen etwas zu essen warm. Unter den Menschen, die das Haus förmlich belagern, sind auch viele Kranke in Rollstühlen, einige von ihnen von MS deformiert, andere mit Infusionen im Arm und wieder andere, die mit leerem Blick vor sich hin starren. Schwarzgekleidete Nonnen wandern über das Herbstlaub wie eine Herde Pinguine, betend oder den Kranken geistigen Beistand leistend. Dann sind da noch die Reporter, die sich etwas abseits breit gemacht haben, mit Ü-Wagen und Kameraleuten, ihre schicken Anzüge so fehl am Platz wie Blüten auf hartgefrorenem Novemberboden.
Wo um alles in der Welt soll sie anfangen?
Sie kämpft sich unter Zuhilfenahme der Ellenbogen durch die dichtgedrängte Menge, fest entschlossen, bis zur Haustür vorzudringen, um mit Mariah White zu sprechen. Nachdem sie fünf Minuten über Schlafsäcke und Verlängerungskabel gestolpert ist, gibt sie es auf. Irgendwo hier muss ein Polizist sein; sie hat den Streifenwagen vor der Zufahrt stehen sehen. Es wird nicht das erste Mal sein, dass sie in ihrer Eigenschaft als Prozesspflegerin auf die Hilfe eines Polizeibeamten zurückgreifen muss, aber bisher ist nie eine Menschenansammlung der Grund für diese »Amtshilfe« gewesen.
Kenzie wendet sich einer Frau an ihrer Seite zu und lacht atemlos. »Das ist vielleicht was, nicht wahr? Sie müssen schon ziemlich lange hier sein, um einen so tollen Platz zu ergattern. Warten Sie auf Faith?«
»Die Frau lächelt zögernd. »No English«, sagt sie. »Parlez-vous francais?«
Großartig, denkt Kenzie, es sind Hunderte von Leuten hier, und ich erwische ausgerechnet den einen, der mich nicht versteht. Sie schließt einen Moment die Augen und vergegenwärtigt sich den richterlichen Terminplan. Das Sorgerechtsverfahren beginnt in fünf Wochen. In dieser Zeit muss sie mit jedem sprechen, der seit August und möglicherweise auch davor Kontakt zu Faith hatte. Außerdem muss sie der Wiederauferstehung ihrer Großmutter auf den
Weitere Kostenlose Bücher