Die Wahrheit der letzten Stunde
hatte ihr gedroht, dass er sie auf die Straße setzen würde, wenn sie irgendjemandem ein Wort davon erzählte.
Das alles geht ihr durch den Kopf, als sie nach ihrem Besuch bei den Whites auf den Highway auffährt. Obwohl nichts darauf hindeutet, dass es Parallelen gibt zwischen dem aktuellen und dem letzten Fall, sind ihr doch gewisse Dissonanzen aufgefallen, die Kenzie beschäftigen.
Irgendwas will man vor ihr verbergen. Es steht Mariah White ins Gesicht geschrieben; darum vermeidet sie es auch, sich länger als fünf Minuten mit Kenzie in einem Raum aufzuhalten. Die Sonne steht schon tief, und seufzend klappt Kenzie die Sonnenblende herunter. Vielleicht ist es nur die Scham, weil sie vor Jahren in einer Anstalt war. Vielleicht liegt es auch nur an dem, was Colin White ihr erzählt hat — dass Mariah deshalb untergetaucht ist, um sich dem Zugriff des Gesetzes zu entziehen. Andererseits: Warum hätte sie dann zurückkommen sollen? Und könnte mehr dahinter stecken als das?
Bei ihren beiden Besuchen im Farmhaus hatte Kenzie das Gefühl, dass das Mädchen lieber bei seiner Mutter bleiben würde. Aber sie kann nicht sagen, ob der Grund hierfür der ist, dass sie Jessica White nicht leiden kann, oder ob ihre Mutter sie vielleicht unter Druck setzt.
Andererseits besteht durchaus die Möglichkeit, dass Mariah White, als sie New Canaan verließ, nichts von Colins Plänen ahnte, das Sorgerecht einzuklagen. Vielleicht hat sie nur im Interesse des Kindes die Flucht ergriffen. Niemand vom medizinischen Personal, das sie befragt hat, hat auch nur angedeutet, dass Mariah White der Katalysator von Faith’ körperlichen oder psychischen Problemen sein könnte. Möglicherweise ist Faith einfach nur ein Kind mit blühender Phantasie.
Ein Wagen schneidet sie und drängt sie ab auf die Standspur. Kenzie steigt auf die Bremse und lässt den Wagen ausrollen. Sie atmet tief durch und fährt sich mit einer Hand über die Augen. Konzentriere dich, ermahnt sie sich. Das war knapp.
Vorsichtig fädelt sie sich wieder in den fließenden Verkehr ein und fragt sich, ob Mariahs größtes Verbrechen schlicht darin besteht, blind zu glauben, dass ihre Tochter die Wahrheit sagt.
14. November 1999
Es war ursprünglich James’ Idee, die Sendung am Sonntagmorgen auszustrahlen - er war einfach davon ausgegangen, dass es zweifellos bereits für kontroverse Debatten sorgen würde, wenn die Show des erklärten Atheisten ausgerechnet an dem Tag lief, der den Christen heilig war. Und obgleich Ian mindestens sieben Skripts fertig hat, erscheint ihm kein einziges mehr passend. Und so improvisiert er. Er ist eingeschränkt in dem, was er anführen kann, bevor es gegen Faith und Mariah verwendet wird. Auf der anderen Seite kann er keinen allzu neutralen Standpunkt vertreten, ohne den Argwohn seines ausführenden Produzenten zu erregen.
Das Scheinwerferlicht strahlt ihm heiß ins Gesicht, und das weite Maul von Kamera eins schwenkt herum, als er eine Bibel auf das Gras hinter sich wirft. Anders als bei gewöhnlichen Studioaufnahmen, hat er bei der Aufzeichnung vor Ort Zuschauer. Es sind nicht viele, da der Großteil der Leute, die Mariahs Haus belagern, keine Atheisten sind, sondern Gläubige. Genau deshalb hat er auch einen Bibeltext als Aufhänger für seine Schmährede gewählt.
»>Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du lieb hast, den Isaak, und gehe in das Land Morija und bringe ihn dort… als Brandopfer dar!<« Ian lässt den Blick über die Umstehenden schweifen. »Ja, Sie haben richtig gehört. Abraham soll sein Kind töten, nur um zu beweisen, dass er, wenn Gott ihm befiehlt, zu springen, lediglich fragt: >Wie hoch?< Und was geschieht? Abraham gehorcht. Er hält Isaak ein Messer an die Kehle, und in letzter Minute taucht Gott auf und erklärt ihm, das Ganze sei nur ein Scherz gewesen.« Ian schnaubt verächtlich. »Das ist der Gott, den Sie verehren? Ein überlegenes Wesen, das auf seine Untertanen herabblickt wie auf Leibeigene? Wenn Sie einen dieser Geistlichen dort drüben darauf ansprechen, wird er Ihnen erzählen, bei dieser Geschichte ginge es um Glauben, darum, sein Schicksal in Gottes Hände zu legen und es ihm zu überlassen, das Beste daraus zu machen. Aber das ist keineswegs eine Geschichte, die sich um den Glauben dreht. Es ist nicht einmal eine Geschichte über Abraham. Das ist eine Geschichte über Isaak.
Was mich interessiert und die Bibel mir vorenthält, ist, was Isaak gedacht hat, als sein Vater ihn mitten im
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