Die Wahrheit der letzten Stunde
zuckt die Achseln. »Mami ist krank geworden.«
»Und dann?«
»Dann ist Gott gekommen.«
Kenzie erstarrt. »Ich verstehe. Und war das für dich etwas Gutes?«
Faith lässt sich mit ausgebreiteten Armen auf die Tagesdecke zurücksinken und wickelt sich darin ein. »Sehen Sie mal, ich bin ein Kokon.«
»Erzähl mir von Gott«, fordert Kenzie sie auf.
Faith rollt sich auf sie zu. In die Decke gewickelt wie eine Schmetterlingspuppe, schaut nur ihr Gesicht hervor. »Wenn sie da ist, fühle ich mich gut. Mir wird ganz warm, wie wenn ich mich mitten in die Sachen setze, die frisch aus dem Trockner kommen. Aber ich mag es nicht, wenn sie mir wehtut.«
Kenzie horcht auf. »Sie tut dir weh?«
»Sie sagt, sie muss es tun, und ich weiß, dass sie es eigentlich nicht will, weil sie mir hinterher immer sagt, dass es ihr leidtut.«
Kenzie starrt das kleine Mädchen mit den unübersehbaren Malen an den Händen an. Als Prozesspflegerin hat sie schon vieles gesehen, und das meiste war alles andere als erfreulich. »Kommt Gott zu dir, um mit dir zu sprechen, wenn es in deinem Zimmer dunkel ist?«, fragt sie, worauf Faith nickt. »Kannst du sie berühren? Oder ihr Gesicht erkennen?«
»Manchmal. Manchmal weiß ich einfach nur, dass sie da ist.«
»Weil sie dir wehtut?«
»Nein … weil sie nach Orangen duftet.«
Überrascht lacht Kenzie auf. »Tatsächlich?«
»Hmmm.« Faith nimmt ein kleines Püppchen aus ihrem Puppenhaus. »Möchten Sie mitspielen?« Kenzie betrachtet das Modell des Farmhauses. »Das ist wirklich hübsch«, sagt sie und fährt mit dem Zeigefinger über das schön geschwungene Eichentreppengeländer. »Hat dir das auch der Weihnachtsmann gebracht?«
»Nein. Das hat meine Mami gemacht. Damit verdient sie ihr Geld.«
Kenzie weiß aus jahrelanger Erfahrung, dass die wahrscheinlichste Erklärung für Faith’ Wunden entweder die ist, dass sie sie sich selbst zufügt, oder dass jemand anders sie ihr beigebracht hat. Jemand, der ihr eingeredet hat, dass er Faith nur aus Liebe zu ihr wehtun muss. Kenzie betrachtet das wunderbar gearbeitete Puppenhaus und überlegt. Obwohl sie es immer wieder erlebt hat, fällt es ihr bis heute schwer zu glauben, dass Eltern, die ansonsten einen völlig normalen Eindruck machen, sich einem Kind gegenüber wie Monster verhalten konnten. »Liebes«, sagt sie, »hat deine Mami das getan?«
»Was getan?«
Kenzie seufzt. Es ist fast unmöglich, ein missbrauchtes oder misshandeltes Kind dazu zu bringen, den Täter zu verraten. Zum einen fürchtet es Repressalien, zweitens existiert zwischen Täter und Opfer eine Beziehung, die auf verzerrten Werten beruht, sodass das Kind die Misshandlungen als Zeichen von Zuwendung betrachtet.
Andererseits beschuldigen Kinder auch manchmal deshalb niemanden, weil es niemanden zu beschuldigen gibt. Einige wenige holen sich tatsächlich ein blaues Auge davon, dass sie gegen eine Tür rennen, oder eine Gehirnerschütterung nach einem Sturz vom Tisch … und bei manchen treten vielleicht sogar echte spontane Blutungen auf. Fest steht, dass Mariah ihre Tochter in Anwesenheit Dritter nicht misshandelt, und Faith legt auch keine Scheu ihrer Mutter gegenüber an den Tag. Mag ja sein, dass der Presserummel nicht gut ist für ein kleines Mädchen, und vielleicht würde Faith etwas mehr Kontakt nach außen gut tun, aber das allein erfüllt noch nicht den Tatbestand der Misshandlung.
Plötzlich geht die Tür auf. Mariah steht mit einem Stapel Bettwäsche auf der Schwelle, sichtlich überrascht, Faith und Kenzie zu sehen. »Entschuldigung«, sagt sie verlegen. »Ich dachte, Sie wären im Spielzimmer.«
»Kein Problem. Ich habe gerade Ihr Puppenhaus bewundert. So etwas habe ich noch nie gesehen.«
Mariah nickt errötend. Sie legt die Bettwäsche auf die Kommode und geht wieder zur Tür. »Ich lasse Sie beide wieder allein.«
»Nein, nein, wirklich, es macht gar nichts, wenn Sie …«
»Nein«, fällt Mariah ihr ins Wort. »Ist schon gut.« Sie geht hinaus und lässt nur schwachen Zitrusduft zurück.
In ihrem letzten Fall hat Kenzie ein neunjähriges Mädchen vertreten, das bei seinen Großeltern lebte, weil es von seiner Mutter im Stich gelassen wurde. Das alte Ehepaar ging jeden Sonntag in die Kirche und sorgte dafür, dass die Kleine in der Schule nett angezogen war und jeden Morgen ein warmes Frühstück bekam. Und etwa einmal die Woche wachte das kleine Mädchen mitten in der Nacht auf, wenn sein Großvater es begrapschte und vergewaltigte. Er
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