Die Wahrheit der letzten Stunde
den Hut tief ins Gesicht ziehen und ein Nickerchen machen. Aber dann betritt eine attraktive Frau das Podium.
Das weckt Allens Neugier. Immerhin ist er seiner Beschäftigung zum Trotz noch nicht tot. Die meisten Redner auf solchen Veranstaltungen sind vertrocknete alte Knacker, die ihn abwechselnd an seinen Vater und den Priester aus seiner Kindheit in Southie erinnern, der ihm auf die Finger schlug, wenn er als Messdiener nicht alles hundertprozentig richtig machte. Er setzt sich auf; zum ersten Mal an diesem Tag ist Interesse in ihm aufgekeimt.
Die Frau ist schlank und zierlich gebaut und hat sich das Haar schlicht hinter die Ohren gesteckt. Sie breitet ihre Notizen auf dem Rednerpult aus. »Guten Morgen, mein Name ist Dr. Mary Keller.« Allen beobachtet, wie ihr Blick über ihre Notizen huscht und sie zögert. »Meine Damen und Herren«, sagt sie, »in Anbetracht des unorthodoxen Themas, das ich Ihnen gleich darlegen möchte, werde ich nicht von meinem vorbereiteten Text ablesen. Stattdessen würde ich Ihnen gerne von zwei Fallstudien berichten. Im ersten Fall handelt es sich um eine aktuelle Patientin, eine Siebenjährige, die von ihrer Mutter zur Behandlung zu mir gebracht wurde. Die Patientin hat sich eine imaginäre Freundin ausgedacht, die sie als ihren Gott bezeichnet. Beim zweiten Beispiel handelt es sich um einen Fall, der dreißig Jahre zurückliegt.« Dr. Keller erzählt von einem Kind in einer Gemeindeschule, das gezwungen wurde, zur Buße über längere Zeit hinweg kniend zu verharren. Eines Tages fühlte die Fünfjährige, wie sich neben ihr etwas bewegte, etwas Warmes und Festes, aber als sie hinübersah, war dort nichts zu sehen.
»Die Frage, die ich heute aufwerfen möchte, lautet: Wenn es keine physische Komponente für eine Täuschung gibt, wenn ein bestimmtes Verhalten in keinerlei diagnostisches Raster passt, zu keinem Verhaltensschema passt, das allgemein anerkannt ist als Indikator für eine Geisteskrankheit, was bleibt uns dann als Diagnose noch offen?«
Allen fühlt, wie die Doktoren in der Reihe vor ihm unmerklich ihre Haltung verändern. Heiliger Bimbam, denkt er, bereits erahnend, worauf sie hinaus will. Diese Frau begeht professionellen Selbstmord.
»Wenn eine physische und psychische Krankheit auszuschließen ist, steht es dann einem Psychiater zu, das Verhalten zu authentifizieren? Zu sagen, dass es sich möglicherweise bei einer Täuschung um eine echte Vision handelt?« Langsam lässt sie den Blick über das ungläubige Publikum schweifen. »Der Grund, weshalb ich Sie das frage, ist der, dass ich mit absoluter Gewissheit weiß, dass eins dieser Kinder die Wahrheit sagt - möglicherweise sogar beide. Ich weiß das deshalb, weil das Kind, das in der Kapelle kniete und dieses … undefinierbare Etwas fühlte … ich selbst war. Und weil ich es dreißig Jahre später in meiner eigenen Praxis bei einer kleinen Patientin wieder gefühlt habe.«
Allen McManus reißt den Blick von Dr. Keller los, verlässt unauffällig den Raum und ruft seinen Redakteur an.
Am Abflug-Gate sieht Colin zu, wie Jessica zum hundertsten Mal ihre Tickets überprüft. Sie sieht in ihrem maßgeschneiderten Kostüm und mit dem Laptopkoffer in der Hand aus wie eine ganz gewöhnliche Geschäftsreisende. Sie sieht genauso geschäftsmäßig aus wie Colin selbst. Wenn man sie so sieht, würde keiner auf die Idee kommen, dass sie am Ende des zehntägigen Vertreterkonferenz in Las Vegas in einer Drive-through-Kirche heiraten und sich die eine Woche Hochzeitsreise mit Glücksspiel vertreiben werden.
»Bist du aufgeregt?«, schnurrt sie und schmiegt sich an ihn. »Ich ja. Sehr sogar.«
»Ich, äh, ich muss mal wohin.« Colin schenkt ihr ein Lächeln und steuert zielstrebig die Herrentoilette an. Er weiß nicht recht, wie er zu dieser Heirat in Las Vegas steht. Mit irgendeinem Friedensrichter, einem Elvis-Imitator, der ihnen ein Ständchen bringt, und einem Brautstrauß für fünf Dollar aus dem Automaten wird sich diese Heirat jedenfalls deutlich von jener mit Mariah unterscheiden.
Es war Jessicas Idee. Sie mussten sowieso wegen der Konferenz nach Las Vegas. »Außerdem«, hatte sie lachend hinzugefügt und ihren Bauch gerieben, »stell dir nur vor, was wir ihm später einmal alles erzählen können.«
Jetzt fragt er sich, ob seine Ehe mit Mariah vielleicht von Dauer gewesen wäre, wenn er sie in der Light of the Moon-Kapelle in Vegas geheiratet hätte anstatt in St. Thomas in Virginia, mit mehr Prunk und Pomp
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