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Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Kalender eingetragen. Aber es gibt in seinem Kalender keinen Eintrag aus der vergangenen Woche. Nichts.
    Nur die Uhrzeit, und darunter, um 11:00 Uhr, der Name der kleinen Faith White.
     
    Mitten in der Nacht wacht Faith auf und ballt die Hände zu Fäusten. Es tut so weh, dass ihr ein Wimmern entfährt, so wie damals, als Betsy Corcoran sie am kältesten Tag im letzten Winter herausgefordert hat, die Fahnenstange anzufassen, woraufhin ihre Haut beinahe am Metall festgefroren war. Sie rollt sich herum und vergräbt die Hände unter dem Kissen, wo das Laken noch kühl ist.
    Aber das hilft auch nicht. Sie wälzt sich eine Weile herum und fragt sich, ob sie auf die Toilette gehen soll, jetzt, wo sie sowieso wach ist, oder ob sie im Bett bleiben und abwarten soll, dass der Schmerz in den Händen nachlässt. Noch will sie nicht zu ihrer Mutter gehen. Einmal war sie mitten in der Nacht aufgewacht, und ihr Fuß hatte geprickelt und sich angefühlt wie eine Wassermelone. Aber ihre Mutter hatte gesagt, der Fuß wäre nur eingeschlafen, und sie solle sich wieder hinlegen. Faith hatte nicht verstanden, wie ihr Fuß schlafen sollte, wo sie selbst doch wach war.
    Sie rollt sich erneut herum, und da sieht sie ihre Beschützerin auf der Bettkante sitzen. »Meine Hände tun weh«, jammert sie und zeigt sie ihr.
    Ihre Beschützerin beugt sich vor, um sie zu begutachten. »Es wird nur eine Weile wehtun.«
    Das tröstet Faith. Es ist, wie wenn sie Fieber hat und krank ist und ihre Mutter ihr Tabletten gibt, von denen sie weiß, dass sie die Kopfschmerzen vertreiben werden. Faith sieht zu, wie ihre Beschützerin erst ihre linke und dann ihre rechte Hand hebt und die Handflächen küsst. Ihre Lippen sind so heiß, dass Faith im ersten Moment zusammenzuckt und die Hände zurückzieht. Als sie hinabschaut, sieht sie, dass der Kuss ihrer Beschützerin einen roten Abdruck auf der Haut hinterlassen hat. Faith denkt, es wäre Lippenstift, und reibt mit dem Daumen an dem Abdruck, aber er lässt sich nicht abwischen.
    Ihre Beschützerin schließt bedächtig Faith’ Finger, sodass ihre Hände wieder Fäuste bilden. Faith kichert; ihr gefällt die Vorstellung, einen Kuss festzuhalten. »Siehst du, wie lieb ich dich habe?«, fragt die Beschützerin, und Faith schläft mit einem Lächeln auf den Lippen wieder ein.
     
    30. September 1999
     
    Es wäre schön, wenn Ian behaupten könnte, dass sein sechster Sinn für die Aufdeckung von Betrug ihn auf direktem Wege zu Faith White führen würde, aber das stimmt nicht. Wie jeder Meisterplaner weiß er, dass der beste Weg, immer auf dem Laufenden zu bleiben, der ist, die Antennen nach allen Seiten ausgerichtet zu halten. Und so setzt er, als Dr. Keller sich kategorisch weigert, ihn zu sprechen, Plan B in Gang.
    Es dauert eine halbe Stunde, um im örtlichen Krankenhaus einen Wäscheschrank und frischen OP-Kittel zu finden. Zehn Minuten, um Yvonne mit sachdienlichen Informationen zu füttern, dann tritt sie in unauffälliger Krankenhauskleidung durch die Glastüren.
    Eine Viertelstunde später kehrt sie mit strahlendem Gesicht zurück. »Ich bin direkt zu der Schwester gegangen, die die Kernspin-Termine vergibt, und habe ihr gesagt, Dr. Keller habe die Untersuchungsergebnisse einer siebenjährigen Patientin nicht bekommen. >Faith White, sagen Sie?<, fragt sie, sieht im Computer nach und meint, sie wären schon vor einer Woche rausgegangen. Faith White, hat sie gesagt. Einfach so.«
    Aber Ian hat sich bereits in Bewegung gesetzt. Er fährt bereits mit dem Finger über eine lange Liste von Whites im Telefonbuch. Dann nimmt er sein Handy aus der Tasche und wählt die Nummer neben dem ersten Eintrag unter diesem Namen. »Hallo. Ich suche die Mutter von Faith White. Oh. Entschuldigen Sie die Störung.«
    Noch zwei vergebliche Anrufe, dann meldet sich ein Anrufbeantworter: »Dies ist der Anschluss von Colin, Mariah und Faith. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht.«
    Ian zieht einen Kreis um die Adresse und blickt triumphierend in die Runde seiner Mitarbeiter. »Volltreffer.«
     
    Es ist nicht leicht, sich in New Canaan zurechtzufinden. Abgesehen von der Main Street, die an beiden Enden in die breitere und besser ausgebaute Route 4 übergeht, gibt es dort nicht viele Orientierungspunkte. Schule, Polizeirevier, Frisörsalon, Arbeitsamt und Donut King markieren die Ortsdurchfahrt. Aber wenn man sich nicht auskennt im Gewirr der Landstraßen, die sich zwischen Maisfeldern hindurch oder über den Bear Mountain

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