Die Wahrheit der letzten Stunde
als auf einer königlichen Hochzeit. Wenn er bereit gewesen wäre zur - wie nannte man das noch gleich? Die Horn! - oder ein Glas mit dem Fuß zu zerbrechen. Wenn er nicht einfach davon ausgegangen wäre, dass das der richtige Weg war, wären die Unterschiede zwischen ihnen möglicherweise nicht so deutlich hervorgetreten. So wie es gelaufen ist, gibt Colin sich die Schuld an dem, was seiner Ex-Frau widerfahren ist. Er hat von ihr verlangt, sich seinen Wünschen zu beugen, bis sie schließlich daran zerbrochen ist.
Anstatt die Herrentoilette zu betreten, setzt Colin sich in eine schmale Telefonzelle und ruft in seinem früheren Zuhause an. »Mariah«, sagt er, als sie sich meldet.
Hierauf folgt eine Pause. »Colin.« Obwohl er versucht, es zu überhören, entgeht ihm die Freude in ihrer Stimme nicht. Sie bereitet ihm Unbehagen; das war schon immer so. Welcher Mensch, der noch ganz bei Trost ist, möchte schon für einen anderen den Erlöser spielen?
Colin drückt die Stirn gegen die Metallwand der Kabine und versucht, die richtigen Worte zu finden für das, was er ihr mitteilen muss. »Was macht Faith’ Rücken?«, fragt er stattdessen.
»Dem geht es schon viel besser. Sie trägt jetzt wieder T-Shirts.«
»Gut.«
In der folgenden Stille fällt Colin wieder ein, wie unbehaglich Mariah sich bei Gesprächspausen immer gefühlt hat. Um die Stille zu vertreiben, stürzte sie sich kopflos in sinnlose Sätze und plapperte überflüssiges Zeug, anstatt das Ende der Stille abzuwarten. Aber jetzt ist sie ebenso wortkarg wie er, so als versuche sie ebenso wie er, ein Geheimnis für sich zu behalten.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragt sie schließlich.
»Ja. Ich bin auf dem Weg nach Las Vegas zu einer Konferenz.«
»Oh«, entgegnet sie leise, ausdruckslos, und er weiß, was sie mit diesem einen Wort meint: Wie kommt es, dass dein Leben weitergeht, als wäre nichts geschehen? »Dann hast du wohl nur wegen Faith angerufen.«
»Ist das … hättest du etwas dagegen?«
»Du bist ihr Vater, Colin. Natürlich ist es okay, wenn du sie anrufst.«
Es folgt ein statisches Knistern, und noch bevor Colin noch etwas zu Mariah sagen kann, ist Faith am Apparat. »Hi, Papa.«
»Hallo, Schnittchen.« Er wickelt sich die Metallschlange des Hörerkabels um den Arm. »Ich wollte dir nur sagen, dass ich ein paar Wochen weg sein werde.«
»Immer gehst du weg.«
Colin wird bewusst, dass sie Recht hat. Bei den vielen Reisen, die der Job von ihm verlangt, enthalten seine Erinnerungen an Faith - und wohl auch ihre an ihn - fast alle einen Abschied oder ein Wiedersehen. »Aber ich vermisse dich jedes Mal.«
»Ich vermisse dich auch.« Faith schnieft und reicht den Hörer zurück an Mariah.
»Tut mir leid«, sagt diese. »Sie ist in letzter Zeit etwas sprunghaft.«
»Das ist ja nur verständlich.«
»Sicher.«
»Sie ist noch ein Kind.«
»Ich weiß. Ich bin sicher, sie hat sich sehr über deinen Anruf gefreut.«
Colin staunt darüber, wie fremd sie beide klingen: Mariahs Worte sind früher über ihn hinweg gedonnert wie eine Brandung, anhaltendes Gequake über Abholscheine für die Reinigung, Elternsprechtage in der Schule und Sonderangebote im Supermarkt. Gequassel, dem er nie zugehört, ja, das er nie registrierte, bis es aufgehört hat und er plötzlich überrascht feststellt, dass er bis zum Hals im Sand dieser Ehe feststeckt. Er fragt sich, wie man so plötzlich von Worten, die so gedankenlos fallen gelassen werden wie Kleingeld, übergehen kann zu dem hier, da das banalste Gespräch einen völlig auslaugen kann.
»War das alles?« Mariah zögert kaum merklich, ehe sie hinzufügt: »Oder wolltest du auch mich sprechen?«
Es gibt so vieles zu besprechen: die Hochzeit, wie Mariah zurechtkommt, wie seltsam es ihm vorkommt, Meilen von ihr getrennt zu sein und immer noch das Gefühl zu haben, einen Blick um eine hohe und dicke Mauer herum zu wagen. »Das war alles«, sagt Colin.
29. September 1999
Ian bezahlt drei Personen dafür, dass sie die Zeitungen aller größeren Städte der Vereinigten Staaten und Europas lesen. Jeden Morgen um acht haben diese Assistenten ihm zwei zweifelhafte mystische Ereignisse zu melden. An einem Morgen, zwei Wochen nach Beginn seiner Aufklärungs-Kampagne, nehmen sie in der engen Sitzecke des Winnebago Platz. »Also dann.« Ian wendet sich David zu, seinem jüngsten Mitarbeiter. »Was hast du ausgegraben?«
»Ein Huhn mit zwei Köpfen und eine Fünfundsiebzigj ährige, die ein Kind
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