Die Wahrheit der letzten Stunde
wenn es gar nicht mehr aufhört?«
Meine Mutter lächelt sanft. »Dr. Keller wird eine andere Medizin finden, die anschlägt.«
»Nein, das meine ich nicht. Ich meine … was, wenn es real ist?«
Meine Mutter hört auf, die Arbeitsplatte abzuwischen. »Mariah, was redest du da?«
»Es ist schon früher passiert. Es hat andere Kinder gegeben, die … Dinge gesehen haben. Und katholische Priester, der Papst oder sonst irgendwer haben diese Fälle für authentisch erklärt.«
»Faith ist nicht katholisch.«
»Das weiß ich. Ich weiß auch, dass wir nie religiös gewesen sind. Aber ich frage mich, ob man in dieser Sache überhaupt eine Wahl hat.« Ich hole tief Luft. »Ich bin einfach nicht sicher, ob du, die Psychiaterin und ich die Richtigen sind, darüber zu urteilen.«
»Wer sollte es sonst tun?«, möchte meine Mutter wissen und verdreht die Augen. »O Mariah. Du willst doch nicht mit ihr zu einem Priester gehen.«
»Warum nicht? Immerhin haben diese Leute Erfahrung mit Erscheinungen.«
»Sie werden Beweise verlangen. Eine Statue, die Tränen weint, oder einen Gelähmten, der plötzlich wieder gehen kann.«
»Das stimmt nicht. Manchmal genügt ihnen das Wort eines Kindes.«
Meine Mutter verzieht verächtlich das Gesicht. »Und seit wann bist du eine solche Expertin in diesen Goj-Fraugen!«
»Das hat nichts mit Religion zu tun!«
»Ach nein? Und womit dann?«
»Mit meiner Tochter«, entgegne ich mit belegter Stimme, während mir Tränen in die Augen schießen. »Sie ist anders, Ma. Und irgendwann werden die Leute anfangen, hinter vorgehaltener Hand zu tuscheln und mit Fingern auf sie zu zeigen. Es ist nicht so, als hätte sie ein Feuermal, das ich unter einem hohen Kragen verbergen und wegdenken kann.«
»Und was soll es bringen, mit einem Geistlichen zu sprechen?«
Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung, was ich mir davon erhoffe - eine Art Exorzismus vielleicht? Eine Art Rache? Plötzlich kann ich mich wieder glasklar daran erinnern, wie ich vor Jahren an einer Kreuzung an einer roten Ampel stand, überzeugt davon, dass jeder die Narben unter meinen Armein sehen konnte. Dass alle wussten, dass ich irgendwie und unwiderruflich anders war. Ich wollte nicht, dass meine Tochter so empfand. »Ich möchte nur, dass Faith wieder normal ist«, sage ich.
Meine Mutter mustert mich abschätzig. »Also gut. Tu, was du tun musst. Aber vielleicht solltest du nicht in einer Kirche damit anfangen.« Sie sucht in ihrer alten, vollgekritzelten Rollkartei und nimmt eine Visitenkarte heraus. Sie ist vergilbt, die Ecken sind umgeknickt — entweder viel benutzt oder lange vergessen. »Das ist der Name des hiesigen Rabbi. Ob du es nun wahrhaben willst oder nicht, deine Tochter ist Jüdin.«
Rabbi Marvin Weissman. »Ich wusste gar nicht, dass du in den Tempel gehst.«
»Gehe ich auch nicht«, entgegnet sie achselzuckend. »Sie wurde irgendwann an mich weitergegeben.«
Ich stecke die Karte ein. »Gut, ich werde zuerst ihn anrufen. Nicht, dass er mir glauben wird. Ich habe in all den Büchern, die ich heute gelesen habe, keinen einzigen Juden gefunden, der eine religiöse Vision gehabt hätte.«
Meine Mutter kratzt mit dem Daumennagel über den Rand der Arbeitsplatte. »Und was sagt dir das?«
Obwohl ich schon viele Male an den Tempel in New Canaan vorbeigekommen bin, habe ich ihn nie betreten. Im Inneren ist es düster und riecht modrig. Lange, schmale Buntglasfenster flankieren die Wände in regelmäßigen Abständen, und der Terminplan für die Hebräisch-Schule am Schwarzen Brett ist bunt dekoriert mit den Namen der Schüler. Faith drängt sich an mich. »Hier gefällt es mir nicht. Es ist unheimlich.«
Insgeheim stimme ich ihr zu, aber ich drücke ihre Hand. »Es ist nicht unheimlich. Sieh dir nur die hübschen Fenster an.«
Faith betrachtet die bunten Fenster und sieht dann wieder mich an. »Ich finde es trotzdem unheimlich.« Auf dem Flur nähern sich Schritte. Ein Mann und eine Frau erscheinen auf der Schwelle. Sie streiten. »Kannst du vielleicht auch mal etwas Nettes sagen?«, schimpft die Frau. »Oder unternimmst du bewusst alles in deiner Macht Stehende, um mich dastehen zu lassen wie eine Idiotin?«
»Sehe ich so aus, als wollte ich dich absichtlich aufregen?«, kontert der Mann mit dröhnender Stimme. »Sehe ich so aus?« Ohne Faith und mich zu bemerken, reißen sie ihre Jacken von den Haken im Garderobenraum. Faith kann den Blick nicht von den beiden losreißen. »Nicht«, ermahne ich sie.
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