Die Wahrheit der letzten Stunde
»Es ist unhöflich, Leute anzustarren.«
Aber sie fährt fort, sie unverwandt anzusehen, mit geweiteten Augen, traurig und fast wie in Trance. Ich frage mich, ob das Ehepaar sie an Colin und mich erinnert, ob die Auseinandersetzungen, die wir versucht haben, hinter verschlossenen Türen zu verbergen, bis zu ihr durchgedrungen sind. Die beiden gehen hinaus, durch ein greifbares Band des Zorns verbunden, fast so, als würden sie die Hände ihres einzigen Kindes fest umschlossen halten.
Plötzlich taucht Rabbi Weissman auf, in einem karierten Hemd und Jeans. Er ist nicht älter als ich. »Mrs. White. Faith. Es tut mir leid, dass ich mich etwas verspätet habe, ich hatte noch einen anderen Termin.« Das wütende Ehepaar. Waren sie zu einer Art Eheberatung gekommen? Gehörte das zur Vorgehensweise anderer Leute, wenn ihre Ehe auseinanderbrach?
Als ich nichts sage, lächelt er seltsam. »Stimmt etwas nicht?«
»Nein«, sage ich kopfschüttelnd. Er hat mich kalt erwischt. »Es ist nur, dass ich mir Rabbis immer mit langem grauem Bart vorgestellt habe.«
Er tätschelt seine glattrasierten Wangen. »Sie haben zu viel Fiddler on the Roof gesehen. Bedaure, wenn ich dem Klischee nicht entspreche.« Er drückt Faith etwas Süßes in die Hand und zwinkert ihr zu. »Warum gehen wir nicht alle ins Sanktuarium?« Ein Sanktuarium. Ja, bitte.
Der Hauptraum des Tempels hat eine hohe, spitz zulaufende Decke mit offenem Gebälk, die Gebetsbänke sind ordentlich aneinandergereiht wie Zähne, und über der Bema liegt ein Rechteck aus blauem Samt. Der Rabbi nimmt eine kleine Packung Buntstifte aus der Hemdtasche und reicht sie Faith zusammen mit einigen Blatt Papier. »Ich möchte deiner Mami gern etwas zeigen. Geht das in Ordnung?«
Faith, die bereits die Stifte aus dem Karton fischt, nickt. Der Rabbi führt mich weiter hinten ins Zimmer, von wo aus wir Faith gut im Blick haben und uns trotzdem ungestört unterhalten können. »Ihre Tochter spricht also mit Gott.«
So unverblümt ausgesprochen, lässt mich die Feststellung erröten. »Ich glaube ja.«
»Und warum wollten Sie mich sprechen?«
Ist das nicht offensichtlich? »Also, ich war mal Jüdin. Ich meine, ich wurde in diesem Glauben erzogen.«
»Dann haben Sie konvertiert.«
»Nein, ich habe mich eher aus der Religion zurückgezogen und dann ein Mitglied der Episkopalkirche geheiratet.«
»Dann sind Sie immer noch Jüdin«, stellt der Rabbi fest. »Sie mögen eine agnostische, nichtpraktizierende Jüdin sein, aber Sie sind trotzdem noch Jüdin. Das ist wie Teil einer großen Familie zu sein. Man muss sich schon etwas sehr Schlimmes zuschulden kommen lassen, um verstoßen zu werden.«
»Meine Mutter sagt, Faith wäre ebenfalls Jüdin. Rein technisch gesehen. Darum bin ich hier.«
»Und Faith spricht mit Gott.« Es ist kaum mehr, als eine angedeutete Bewegung, aber ich nicke. »Mrs. White«, sagt der Rabbi, »das ist nichts Besonderes.«
»Nichts Besonderes?«
»Viele Juden sprechen mit Gott. Der Judaismus geht von einer direkten Beziehung zu Ihm aus. Der Punkt ist also weniger, ob Faith zu Gott spricht, sondern vielmehr, ob Gott zu ihr spricht.«
Ich berichte ihm von dem Zitat aus der Genesis, das Faith rezitiert hat wie ein Kinderlied, von dem Kapitel aus der Bibel. Ich erzähle ihm von meinem ertränkten Kätzchen, der Geschichte, von der niemand außer mir etwas wusste. Als ich fertig bin, fragt Rabbi Weissman: »Hat Gott Ihrer Tochter irgendwelche Botschaften mitgeteilt? Irgendwelche Hinweise darauf, wie sich das Böse auf der Welt bekämpfen ließe?«
»Nein, das hat sie nicht.«
Der Rabbi stutzt. »Sie?«
»Das behauptet zumindest Faith.«
»Ich würde gern mit ihr sprechen.«
Eine halbe Stunde, nachdem ich den Rabbi und Faith im Sanktuarium zurückgelassen habe, kommt er zu mir in die Eingangshalle des Tempels. »Maimonides«, sagt er, als befänden wir uns mitten in einer Unterhaltung, »hat versucht, das >Antlitz< Gottes zu beschreiben. Es ist kein richtiges Gesicht, weil das Gott nicht besser machen würde als einen Menschen. Es ist vielmehr eine Präsenz, ein Gefühl von Gottes Gegenwart. Ganz so wie Gott uns nach seinem Vorbild erschaffen hat, stellen auch wir ihn uns nach unserem eigenen Erscheinungsbild vor - damit es in unseren eigenen Köpfen Sinn macht. Midrasch zufolge gab es verschiedene Zwischenfälle, als Gottes Form sich offenbarte. Bei einer dieser Erscheinungen, bei der Durchquerung des Roten Meeres, tauchte Gott in der Gestalt eines
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