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Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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jungen Kriegers und Helden auf. Auf dem Berge Sinai als älterer Richter. Warum sah Gott auf dem Berge Sinai aus wie ein Richter, nicht aber am Roten Meer? Weil die Menschen am Roten Meer einen Helden brauchten. Ein alter Mann hätte diese Rolle nicht ausfüllen können.« Er wendet sich mir zu. »Aber natürlich ist Ihnen das alles bekannt.«
    »Nein. Ich habe noch nie davon gehört.«
    »Wirklich nicht?« Rabbi Weissmann mustert mich sehr eindringlich. »Ich habe Faith gefragt, ob sie ein Bild des Gottes zeichnen könne, den sie sieht.« Er zeigt mir ein Blatt Papier, das auf der einen Seite bemalt ist. Ich erwarte nichts Besonderes, immerhin habe ich schon mehrere Zeichnungen gesehen, die Faith von ihrer imaginären Freundin gemalt hat. Aber dieses Bild ist anders. Eine Frau ganz in Weiß sitzt auf einem Stuhl und hält zehn Säuglinge in den Armen, schwarze, weiße, rote und gelbe. Und obgleich das Bild nicht sehr kunstvoll ist, ähnelt das Gesicht dem meinen.
    »Wollen Sie damit sagen, dass Gott in ihren Augen so aussieht wie ich?«, frage ich schließlich.
    Rabbi Weissmann zuckt die Achseln. »Ich sage gar nichts. Aber es könnte sein, dass andere das tun.«
     
    In seinem topmodischen italienischen Anzug, mit dem ordentlich gekämmten Haar und seinen geschliffenen Manieren sieht Dr. Grady de Vries, Experte für Schizophrenie bei Kindern, nicht so aus wie jemand, dem man zutrauen würde, dass er sich drei Stunden zu Faith auf den Fußboden setzt, die mit der kahlköpfigen Barbie spielt. Und doch habe ich ihn durch das Beobachtungsfenster genau das tun sehen. Nach einiger Zeit betreten er und Dr. Keller durch die Verbindungstür das Büro der Psychiaterin. »Mrs. White«, sagt Dr. Keller, »Dr. de Vries möchte Sie gerne sprechen.«
    Er setzt sich mir gegenüber auf einen Stuhl. »Die gute oder die schlechte Nachricht zuerst?«
    »Die gute.«
    »Wir setzen das Risperdal bei Faith ab. Ihre Tochter leidet an keiner Psychose. Ich arbeite seit über zwanzig Jahren mit psychotischen Kindern. Ich habe Bücher und Artikel in der Fachpresse zu diesem Thema veröffentlicht, und ich wurde schon als Gutachter vor Gericht gehört. Ich erwähne das nur, damit Sie verstehen, dass ich weiß, wovon ich rede. Faith ist bis auf eine Ausnahme in jeder Hinsicht eine geistig gesunde und einigermaßen zufriedene Siebenjährige.«
    »Und die schlechte Nachricht?«
    Dr. de Vries reibt sich mit Daumen und Zeigefinger die Augen. »Dass Faith tatsächlich etwas hört und mit jemandem spricht. Es gibt da zu viel Wissen, das weder zu ihrem Alter noch zu ihrem Umfeld passt, um es als Phantasien abzutun. Aber es ist keine physische Krankheit und scheint sich auch um keine geistige zu handeln.« Er wirft einen Blick auf Dr. Keller. »Mit Ihrer Erlaubnis würde ich gern Dr. Keller bitten, diesen Fall auf einem Psychiatrie-Symposium in der nächsten Woche vorzustellen, um zu hören, ob vielleicht ein Kollege uns weiterhelfen kann.«
    Durch die Scheibe hindurch sehe ich, wie Faith Sky Dancer in die Luft wirft. Als er in das fluoreszierende Licht gerät, lacht sie und versucht es noch einmal. »Ich weiß nicht… Ich möchte nicht, dass man aus ihr eine Art Kuriosum macht.«
    »Sie wird nicht dabei sein, Mrs. White. Und der Fall wird anonym besprochen werden.«
    »Würde das denn helfen, herauszufinden, wo genau das Problem liegt?«
    Dr. de Vries und Dr. Keller tauschen einen Blick. »Wir hoffen es, Mrs. White«, entgegnet er wahrheitsgemäß. »Aber möglicherweise handelt es sich um etwas, wogegen wir machtlos sind.«
     
    KAPITEL 4
     
    Vertrauen Sie mir, ehrlicher Zweifel birgt mehr Glaube als die Hälfte der Glaubensbekenntnisse.
    Alfred Lord Tennyson
     
    27. September 1999
     
    WENN ALLEN McMANUS den Auftrag erhält, über einen Kongress zu berichten, betrachtet er dies als eine Gelegenheit, sich sechs Stunden zusätzlichen Schlaf zu gönnen. Hin und wieder kommen genug hochwohlgeborene Doktoren im Boston Harbor Hotel zusammen, um einen Schreiberling des The Boston Globe hinzuschicken. Und auch wenn Allen McManus die meiste Zeit Nachrufe verfasst, wird unweigerlich er damit betraut. Offensichtlich ist seinem Chefredakteur der Bezug bewusst: Die meisten dieser fürchterlichen Kongresse können einen zu Tode langweilen.
    Allen macht es sich ganz hinten im Konferenzsaal bequem. Er hat bereits den Titel des Symposiums notiert, was fast schon genug sein dürfte für die zwei Zeilen, die die Veranstaltung verdient. Wenn es losgeht, wird er sich

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