Die Wahrheit der letzten Stunde
noch einmal auf sein Shirt und das lange Haar, das er zu einem Pferdeschwanz gebunden hat. Natürlich, denkt sie. Wenn du ein Rabbi bist, bin ich die Königin von England.
»Beit Am Hadash«, erklärt der Rabbi, »heißt >Haus eines neuen Volkes<. Meine Gemeinde ist Teil der jüdischen Reformationsbewegung. Wir ziehen unsere Lehren ebenso aus der Kabbala wie aus dem Buddhismus, Sufismus und den indianischen Traditionen.« Er wirf einen Blick auf Rabbi Weissman. »Ich würde gern mehr über Faith wissen.«
»Hören sie«, entgegnet Mariah, »ich glaube nicht, dass ich Ihnen etwas zu sagen habe.« Sie hätte die Rabbis gar nicht erst hereingelassen, wenn es ihr nicht unmenschlich erschienen wäre, sie draußen vor der Tür abzufertigen.
Mariah schickt Faith ins Spielzimmer, damit sie das Gespräch nicht mithören kann. »Bei meinem letzten Besuch bei Ihnen hatte ich nicht den Eindruck, Sie wären sonderlich beeindruckt von Faith, Rabbi Weissman. Sie dachten, das Ganze wäre Theater, das ich meiner Tochter abverlange.«
»Ja, ich weiß«, gibt Weissman zu. »Und ich bin immer noch nicht überzeugt. Aber ich habe trotzdem Rabbi Solomon angerufen. Sehen Sie, Mrs. White, nachdem Sie die Synagoge verlassen haben, hat sich etwas sehr Sonderbares ereignet: Ein Ehepaar in einer schlimmen Ehekrise hat sich versöhnt.«
»Was ist daran sonderbar«, entgegnet Mariah und verspürt einen vertrauten Stich in der Herzgegend beim Gedanken an Colin.
»Glauben Sie mir«, sagt Weissman, »sie waren unversöhnlich bis zu jenem Tag, an dem Sie mit Ihrer Tochter bei mir waren.« Er breitet in einer beschwichtigenden Geste beide Hände aus. »Ich drücke mich nicht sehr klar aus. Als ich in der Zeitung den Artikel über Ihre Mutter las, kam mir der Gedanke, dass mancher vielleicht einen Zusammenhang zwischen dieser Versöhnung und Faith vermuten würde. Das hat mich an etwas erinnert, das Rabbi Solomon auf einem Rabbiner-Konzil vor einigen Jahren gesagt hat. Wir hatten die Frage aufgeworfen, was Gott wohl zu einem Propheten unserer Zeit sagen würde. Ich meinte, Gottes Wort müsse eine Botschaft enthalten - Sie wissen schon, dass Israel Frieden finden wird oder auch eine Anleitung, wie wir endlich die Palästinenser besiegen können -, aber von diesen Dingen ist nicht die Rede in den Gesprächen Ihrer Tochter mit Gott. Rabbi Solomon aber meinte, eine göttliche Botschaft würde nicht davon handeln, das Böse aufzuspüren, sondern vielmehr davon, wie Menschen mit anderen Menschen umgehen. Scheidung, Kindesmissbrauch, Alkoholismus, gesellschaftliche Übel. Das wären die Dinge, gegen die er würde angehen wollen.«
Mariah starrt ihn nur ausdruckslos an. Rabbi Solomon räuspert sich. »Mrs. White, darf ich mit Faith sprechen?«
Sie mustert den Mann abschätzig. »Ein paar Minuten«, gestattet Mariah schließlich widerstrebend. »Aber regen Sie sie nicht auf.«
Sie begeben sich alle ins Spielzimmer. Rabbi Solomon kniet sich hin, um mit Faith auf einer Höhe zu sein. »Mein Name ist Daniel. Darf ich dir eine Geschichte erzählen?«
Faith schleicht um Mariahs Hüfte herum und nickt schüchtern. »Die Menschen, die in meinen Tempel kommen, glauben, dass, bevor es sonst irgendetwas gab, Gott da war. Und Gott war so … wie soll ich sagen … umfangreich, dass er, als er die Welt erschuf, selbst ein wenig schrumpfen musste, um Raum für sie zu schaffen.«
»Gott hat die Welt nicht gemacht«, entgegnet Faith. »Das war eine große Explosion. Das habe ich in der Schule gelernt.«
Rabbi Solomon lächelt. »Das habe ich auch gelernt. Und doch denke ich, dass Gott vielleicht diese Explosion bewirkt hat, dass Gott sich alles aus der Ferne angeschaut hat. Meinst du, so könnte es gewesen sein?«
»Vielleicht.«
»Also, wie ich schon sagte. Da war Gott, der sich etwas kleiner machte, um Raum zu schaffen für die Welt. Er füllte Gefäße mit Energie und Licht und setzte sie in diesem neuen Raum aus. Aber im Laufe der Schöpfung konnten diese Gefäße dieser ganzen Energie nicht standhalten, und sie brachen auseinander. Und die Funken göttlichen Lichts aus diesen Gefäßen wurden im Universum verstreut. Auch Bruchstücke der Gefäße fielen herab, und aus ihnen wurden die negativen Dinge in der Welt - die nennen wir Clipot. Meine Freunde und ich glauben, dass es unsere Aufgabe ist, die Welt von Clipot zu säubern und die ganzen Lichtpartikel wieder einzusammeln, um sie Gott zurückzugeben. Es kann also sein, dass wenn man einen Segen spricht
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