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Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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hat sich einen Schal um den Kopf gewickelt und hält den Blick unverwandt auf den Säugling gerichtet, unternimmt jedoch keinen Versuch, Faith das Baby wegzunehmen.
    Faith legt das Kind zurück in ihren Puppenwagen und schiebt ihn zu dem Puppenstühlchen, das sie auf den Rasen vor dem Haus geschleppt hat. Sie setzt das Baby hinein und tut so, als würde sie es mit Stückchen Spielzeugobst füttern. Das Baby lächelt und tritt mit den Füßen gegen die Stuhlbeine. Der Kleine lacht so laut, dass ein Photograph aufwacht, die Kamera auf Faith richtet und mit beunruhigender Geschwindigkeit ein Photo nach dem anderen schießt.
    Mariah erwacht aus ihrer Starre, verlässt die Veranda und geht zu ihrer Tochter hinüber. »Schätzchen, ich glaube, wir sollten jetzt wieder reingehen.«
    Faith blinzelt in die Sonne, die sich langsam über den Horizont schiebt. »Schade. Es macht gerade solchen Spaß.«
    Mariah fährt ihr mit einer Hand über das Haar. »Ich weiß. Vielleicht gehen wir später wieder her.« Während sie spricht, lässt sie den Blick über die wenigen Schaulustigen schweifen und macht bei Ian Fletchers ausdruckslosem Gesicht Halt. Er hat sich, seit sie das Haus verlassen hat, nicht gerührt, hat nichts anderes getan, als zu beobachten. Mariah zwingt sich, wieder Faith anzusehen. »Ich denke, du solltest ihn jetzt besser seiner Mutter zurückbringen.«
    Faith hebt das Baby vorsichtig aus dem Stühlchen und drückt die Lippen auf die Wunde an seiner Stirn. Dann geht sie zur Esche hinüber und übergibt das Kind seiner schluchzenden Mutter. Die Frau möchte ganz offensichtlich etwas zu Faith sagen, vermag es vor lauter Weinen jedoch nicht. Faith berührt ganz sacht ihre Hand, dort wo ihre Finger den Kopf des Babys stützen. »Bringen Sie ihn wieder zum Spielen vorbei, ja?«

Die Frau nickt und wischt sich die Tränen aus den Augen. Faith ergreift die Hand ihrer Mutter, und Mariah hat plötzlich ganz deutlich das Gefühl, jemanden an der Hand zu halten, der ihr völlig fremd ist. Wie ist es möglich, dass Faith in ihr herangewachsen war, dass sie gefühlt hatte, wie sie sich einen Weg hinaus in die Welt bahnte, dass sie ihr sieben Jahre ein Zuhause gegeben hatte, ohne zu ahnen, dass es hierzu kommen würde?
    Sie will gerade mit ihrer Tochter die Verandatreppe hochsteigen, als sie Ian Fletcher zügig die Auffahrt heraufkommen sieht. Er hat den kleinen Plastik-Puppenwagen und den kleinen Hochstuhl bei sich sowie das Körbchen mit dem Spielzeugobst und -gemüse. Mariah nimmt ihm die Spielsachen ab. »Lassen Sie uns«, sagt sie steif.
    Er weicht zurück, den Blick auf Faith gerichtet. »Ich wünschte, ich könnte es.«
     
    Nach dem unerwarteten Auftauchen Faith’ Whites kehrt Ian zurück zum Winnebago. Er ist sich seiner Sache sicherer denn je, nachdem er sie wie eine ganz gewöhnliche Siebenjährige hat spielen sehen. Ganz offensichtlich ist die Mutter die treibende Kraft hinter der ganzen Sache. In dem Moment, da sie aufgetaucht ist, hat das Kind aufgehört. Aus welchem Grund auch immer zieht Mariah White im Hintergrund die Fäden bei dieser Schau.
    Er hat schon andere Scharlatane gesehen, Männer und Frauen, die überaus geschickt darin waren, einen Schwindel über längere Zeit aufrechtzuerhalten. Gewöhnlich geht es ihnen um Geld oder Ruhm. Und das ist das Einzige, was für Ian bislang nicht ins Bild passt. Etwas in Mariahs Augen lässt sie für ihn eher wie ein Opfer erscheinen denn wie eine Betrügerin. Als wäre es ihr tatsächlich lieber, wenn nichts von alledem geschähe.
    Nun, sie war eben eine gute Schauspielerin. Schönheit kann eine großartige Maske sein wegen ihrer Macht, vom Wesentlichen abzulenken. Die Reinheit ihrer Züge, auch wenn sie noch von Schlaf gezeichnet waren - diese umwerfenden Beine, die mühelos und federnd die Entfernung bis zu ihrer Tochter überwanden: das alles war nur ein Köder. Mehr Rauch und Spiegeltricks wie die Wunder der Kleinen. Faith White konnte ebenso wenig Gott sehen und Tote erwecken wie Ian selbst.
     
    8. Oktober 1999
     
    »Das ist Rabbi Daniel Solomon«, sagt Rabbi Weissman zu Mariah.
    Der Mann in dem Batikshirt reicht ihr lächelnd die Hand. »Ich bilde mir gerne ein, ich trage den Namen dieses weisen Königs nicht umsonst.« Mariah verzieht keine Miene. Sie greift hinter sich, wo Faith sich an ihrer Hüfte versteckt und verstohlen zu dem Fremden aufblickt.
    »Ich bin der geistige Führer der Gemeinde Boulder’s Beit Am Hadash«, fährt Solomon fort.
    Mariah blickt

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