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Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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leise, verstellt. Zweifellos handelt es sich nicht um seine Frau. »Wer zum Teufel ist da?«
    »Kennen Sie die Geschichte von Lazarus?«, wiederholt die Stimme noch einmal. »Wer sonst hat von der Sache profitiert?«
    »Hören Sie, mein Freund, ich weiß nicht, was…« Ein lautes Klicken und das Freizeichen. »Lazarus. Was zum Teufel…«
    Das musste ein Halloween-Scherz sein; Halloween stand vor der Tür, und jeder wusste, dass er die Nachrufe schrieb. Natürlich würde der Anruf eines Spinners, der eine Wiederauferstehung zu vermelden hatte, zu Allen durchgestellt werden. Er hat den Zwischenfall bereits wieder vergessen, als auf der Leitung der Nachruf-Redaktion eine Meldung eingeht. Seufzend geht er rüber - vermutlich ein Prominenter, dessen Ableben auf der Associated-Press-Leitung eingegangen war - und blickt auf das körnige Photo einer Frau unter dem Titel des New Canaan Chronicle, wo immer das sein mochte.
    Frau gestorben und ins Leben zurückgekehrt.
    Lazarus.
    Allen setzt sich wieder an seinen Schreibtisch. Er wünscht, er könnte sich erinnern, was genau in der Bibel über Lazarus steht. Andererseits weiß er gar nicht, ob er diese Geschichte überhaupt jemals in der Bibel gelesen hat. Er lehnt sich über den Gang des Großraumbüros zu einer Kollegin hinüber. »Barb, hast du eine Bibel?«
    Sie lacht. »Ja klar, gleich neben meinem Tipp-Ex. Warum? Hast du Gott gesehen?«
    »Vergiss es«, knurrt Allen. New Canaan Chronicle. Ein Käseblatt, wie es unbedeutender nicht sein könnte. Und doch ist da diese Geschichte über eine Frau, die ausgerechnet in diesem Kuhdorf von den Toten auferstanden ist.
    Und diese Psychiaterin war aus demselben Ort gewesen.
    Allen überfliegt den Artikel noch einmal. Im vierten Absatz wird er fündig. Da steht es: Epsteins Enkelin… spricht seit einiger Zeit mit Gott.
    Das muss es sein. Wie viele Kinder kann es in dem Ort schon geben, die Dr. Kellers Beschreibung entsprechen? Allen denkt darüber nach: Ein kleines Mädchen, das Gott sieht und mit ihm spricht und plötzlich Wunder bewirken kann. Das bringt ganz sicher die Titelseite der New Hampshire Ausgabe.
    Wer sonst hat von der Sache profitiert?
    Das waren die Worte des Anrufers gewesen. Die Wiederauferstehung war ganz sicher zu Millie Epsteins Vorteil … es sei denn, es war gar keine richtige Wiederauferstehung. Allen wirft erneut einen Blick auf den Artikel. Dieser Ian Fletcher hängt auch dort herum, was bedeuten muss, es ist so ein Gefühl, dass an der Sache etwas faul ist. Wer aber würde von einem falschen Wunder profitieren? Zum einen die Kleine. Aber Kinder in dem Alter haben immer Manager, die ihre Interessen vertreten.
    Im vorliegenden Fall wäre das vermutlich die Mutter.
     
    7. Oktober 1999
     
    Kurz nach fünf am Morgen hört Mariah, wie die Haustür geöffnet wird. Sie springt aus dem Bett und rennt die Treppe hinunter. Sie schnappt sich einen Schirm aus dem Ständer im Salon, greift ihn wie einen Baseballschläger und hält in der Dunkelheit Ausschau nach einem Eindringling. »Kommen Sie raus!«, ruft sie mit klopfendem Herzen. »Wollen Sie Photos? Wollen Sie ein Exklusivinterview? Zeigen Sie sich, Sie Mistkerl!«
    Aber nichts bewegt sich, nichts rührt sich. Fluchend wirft sie den Schirm weg und erhascht durch die Glasscheibe neben der Haustür einen Blick auf Faith, die barfuß und im Nachthemd einen Puppenwagen über den Rasen schiebt.
    Mariah wirft einen Blick auf die kleine Versammlung am Straßenrand. Die Sektenmitglieder aus Arizona jenseits der Steinmauer schlafen glücklicherweise; die Reporter, die den ganzen Tag darauf gewartet haben, dass Faith sich zeigt, sind scheinbar abgezogen. Und so ist der Einzige, der Faith beobachtet, Ian Fletcher, der übernächtigt und mit grimmigem Gesicht in der Tür des Winnebagos steht.
    »Hi, Mami.« Faith winkt ihr. »Möchtest du mit mir spielen?«
    Mariah schluckt den Protest hinunter, der ihr auf der Zunge liegt. »Deine Füße … ist dir nicht kalt?«
    »Nein, es ist schön hier draußen.« Faith beugt sich über den Puppenwagen. »Findest du nicht auch?«, murmelt sie, über ihre Puppe gebeugt.
    Nur dass die Puppe sich bewegt. Ihre winzigen braunen Fäuste boxen in den Morgennebel, und unter dem lockigen Haar ist ein großes kreisförmiges Ekzem zu sehen. Faith hebt das Baby aus dem Puppenwagen und hält es schmusend an ihre Wange. »Was für ein lieber Junge.«
    In diesem Moment bemerkt Mariah eine schlanke Frau hinter einer Esche am Rand der Auffahrt. Sie

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