Die Wahrheit der letzten Stunde
verächtlich. »So wie Sie mir Ihr Wort gegeben haben, sie gar nicht erst zu filmen.«
»Hören Sie, ich hätte sie nicht ohne Ihre Erlaubnis filmen dürfen. Das habe ich ja bereits zugegeben.«
Ich gehe weiter.
»He. He!« Er packt meinen Arm, als ich einen Schritt von ihm weg mache. »Könnten Sie mir nicht noch eine Sekunde opfern?« Er lässt mich hastig wieder los, als hätte er sich verbrannt, und vergräbt die Hände in den Tasehen seiner Jeans. »Ich möchte Ihnen etwas sagen. Ich glaube nicht an die angeblichen Fähigkeiten Ihrer Tochter - die angebliche Wiederauferstehung eingeschlossen -, und ich bin immer noch entschlossen, zu beweisen, dass das Ganze Humbug ist. Aber ich respektiere, was Sie da drin getan haben.« Er räuspert sich. »Sie sind eine gute Mutter.«
Meine Kinnlade klappt herunter. Mir wird bewusst, dass ich in letzter Zeit so sehr damit beschäftigt war, zu handeln und Faith zu beschützen, dass ich gar keine Zeit hatte, mich zu fragen, ob ich auch alles richtig mache. Dieser Mann, dieser schreckliche Mann, der - ungebeten - in unser Leben geplatzt ist, dieser Mann, für den ich eine Fremde bin, hat in mir die Frau gesehen, die ich immer sein wollte - eine wilde, loyale Löwin, eine geborene Mutter.
Ich weiß nicht, ob ich weinen oder lachen soll. Sicher weiß ich besser als die meisten anderen Menschen, dass die Umstände einen in jemanden verwandeln können, der man noch nie gewesen ist. Ich denke an gewöhnliche Frauen, die zwei Tonnen schwere Autos angehoben haben, um eingeklemmte Kleinkinder zu retten, an Mütter, die sich ganz selbstverständlich schützend vor ihr Kind werfen, um eine tödliche Kugel abzufangen. Vielleicht gehöre ich jetzt auch dazu. Andererseits würde ich mich selbst liebend gern wieder infrage stellen, wenn Faith dafür wieder so würde wie früher.
»Mr. Fletcher?« Ich warte, bis er mir direkt in die Augen sieht, mit einem Dankeschön rechnend, und dann ohrfeige ich ihn mit aller Kraft, die ich aufbringen kann.
KAPITEL 6
Wer nicht mit mir, der ist gegen mich.
Lukas 11,23
6. Oktober 1999
IANS GROSSMUTTER WAR durch und durch eine Südstaaten-Dame gewesen, die ihre Religion trug wie eine Kevlar-Weste. »Gott sei Dank bin ich Christin«, sagte sie, ihre Litanei wiederholend, als sie erfuhr, dass ihr Mann sie wegen der Kellnerin des Jolly Donut verlassen hatte, oder als ihr mitgeteilt wurde, dass man ihr den Grund und Boden unter den Füßen weg verkauft hatte, damit darauf ein J.C.Penney-Laden entstand. Und dann, wenn Gott nicht ganz ausreichte, um ihr Trost zu spenden, hatte sie die Flasche Bourbon hervorgeholt, die sie im Spülkasten der Toilette im Erdgeschoss versteckte, und sich einen genehmigt.
Der Sumpf des Südstaaten-Baptistentums, in dem Ian aufgewachsen war, war weit entfernt von der Skepsis der Yankees. Unten im Süden wurden Gemeinden um ihre Kirche herum gebaut. Es gab immer noch Orte, wo die Religion die Menschen regierte, und das Wort eines Mannes wurde danach beurteilt, welches Gotteshaus er frequentierte. Ehrlich gesagt, fühlt Ian sich um vieles wohler bei den Yankees, für die Religion nur ein Randgedanke ist und nicht gleich eine ganze Lebensart. Im Norden ist Raum für Zweifel… oder zumindest hat Ian das geglaubt, bis er die Reaktionen auf Millie Epsteins Ableben und ihre anschließende Wiederauferstehung gesehen hat.
Über einen Insider ist es ihm gelungen, die Krankenakte von Millie Epstein einzusehen. Drei verschiedene Ärzte haben die Frau für tot erklärt. Und doch hat Ian sie selbst noch vor wenigen Tagen putzmunter herumlaufen sehen.
Seine Einschaltquoten steigen wieder, ein Phänomen, das in etwa so lange anhalten wird wie ein Eiswürfel im Juli aushält, es sei denn, es gelingt ihm irgendwie, Ol ins Feuer zu gießen. Öl, das allem Anschein nach nicht aus Millie Epsteins Lager kommen wird. Er birgt das Gesicht in den Händen und überlegt, was er als nächstes tun soll. Zu den Dingen, die er in diesem Geschäft gelernt hat, gehört, dass jeder eine Leiche im Keller hat, Geheimnisse, die er unbedingt wahren möchte. Wer wüsste das besser als er selbst.
Allen McManus hat gerade seinen Twinkie ausgepackt, als sein privater Telefonanschluss läutet. »Ja?«, knurrt er, nachdem er abgenommen hat. Er hat seiner Frau gesagt, sie solle ihn nicht im Büro anrufen. Himmel, das ist der einzige Ort auf der Welt, an dem er ein wenig Frieden findet.
»Kennen Sie die Geschichte von Lazarus?« Die Stimme ist
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