Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
Vom Netzwerk:
und am Sabbat ein koscheres Hühnchen isst, die heiligen Funken in diesem Huhn freigesetzt werden. Wenn man eine Mizwa für jemand anders abhält — ihm ein wenig unter die Arme greift -, werden weitere Funken freigesetzt.«
    »Wir essen nicht koscher«, sagt Mariah zu Rabbi Solomon. »Wir sind keine praktizierenden Juden.«
    Er zupft an seinem T-Shirt und lächelt schief. »Ich auch nicht, Mrs. White. Aber die Kabbala - der jüdische Mystizismus - kann sogar erklären, warum ein kleines Mädchen, das noch nie im Tempel war oder ein Gebet gesprochen hat, Gott näher sein kann als jemand anders. Niemand kann all diese Funken ganz allein freisetzen. Tatsächlich kann die Fähigkeit, Funken aufzuspüren, so tief in einem selbst vergraben sein, dass man nicht einmal mehr an die Existenz Gottes glaubt. Bis man einem Menschen begegnet, der so viel Licht in sich trägt, dass man gar nicht mehr umhin kann, jenes in sich selbst zu sehen, und wenn diese beiden Menschen zusammen sind, dann wird dieses Licht sogar noch strahlender.« Er berührt Faith am Kopf. »Vielleicht spricht Gott mit Faith, weil sie so viele Menschen erreichen kann.«
    »Glauben Sie?«, flüstert Mariah, die sich beinahe fürchtet, es laut auszusprechen. »Sie haben noch nicht einmal mit ihr gesprochen und glauben doch, dass sie die Wahrheit sagt?«
    »Ich bin ein wenig weltoffener als Rabbi Weissman. Dieses Ehepaar, das er beraten hat… dass die Versöhnung mit dem Besuch Ihrer Tochter zusammengefallen ist, könnte ein Zufall sein. Andererseits war es vielleicht auch keiner, und Faith könnte die Antwort hierauf wissen. Wenn Gott im Jahre neunzehnhundertneunundneunzig in Erscheinung treten wollte, glaube ich nicht, dass er auf Effekthascherei aus wäre oder predigen würde. Ich denke, er würde sich genauso zurückhaltend verhalten, wie ihre Tochter es angedeutet hat.«
    Faith zupft am Ärmel des Rabbi. »Er ist eine Sie. Gott ist eine Sie.«
    »Eine Sie«, wiederholt Solomon zögernd.
    Mariah verschränkt die Arme vor der Brust. »Ja, Faith sagt, Gott ist eine Frau. Hat der jüdische Mystizismus auch dafür eine Erklärung?«
    »Tatsächlich geht die Kabbala davon aus, dass Gott männlich und weiblich ist. Der weibliche Part, die Schekhina, ist die Präsenz Gottes. Sie wurde zerbrochen, als all diese Gefäße barsten. Wenn Faith eine Frau sieht, macht das sehr wohl Sinn. Die Präsenz Gottes wäre nämlich genau das, was ihr die Fähigkeit verleihen würde, zu heilen und Menschen um sich zu scharen. Möglicherweise ist das, was sie sieht, ein Spiegelbild ihrer selbst.«
    Mariah sieht, wie Faith sich desinteressiert am Knie kratzt, dann stellt sie die Frage, die sie bis jetzt zurückgehalten hat. »Boulder’s ist weit weg von hier, Rabbi Solomon. Warum sind Sie hier?«
    »Ich würde Faith gerne mit nach Colorado nehmen, um mehr über ihre Visionen zu erfahren.«
    »Auf gar keinen Fall. Meine Tochter ist keine Kuriosität.«
    Der Rabbi wirft einen Blick aus den Fenstern auf der Frontseite des Hauses. »Ach nein?«
    »Ich habe sie nicht hergebeten.« Sie ballt die Hände seitlich am Körper zu Fäusten und blickt auf Faith. »Ich habe nicht darum gebeten, dass das alles passiert.«
    »Dass was alles passiert, Mrs. White? Gott?« Er schüttelt den Kopf. »Die Schekhina geht nicht dorthin, wo sie unerwünscht ist. Man muss offen sein für die Präsenz Gottes, ehe diese sich einfinden kann. Möglicherweise ist genau das der Grund, warum Sie sich damit überhaupt so schwer tun.« Seine Augen sind wie Bernsteine, die die Vergangenheit in sich verwahren. »Was ist Ihnen widerfahren, Mariah«, fragt er leise, »dass Sie sich so sehr dagegen sträuben, Jüdin zu sein?«
    Sie erinnert sich an das eine Mal, als sie als kleines Mädchen in der Kirche war, zusammen mit einer Freundin. Wie überrascht sie gewesen war, dass dort alle davon ausgingen, dass Jesus jeden Menschen liebte, sogar jene, die Fehler machten. Der jüdische Gott hingegen verlangte, dass man sich seiner würdig erwies. Mariah fragt sich nicht zum ersten Mal, warum eine Religion, die sich der Weltoffenheit rühmt, einem so zahlreiche Prüfungen auferlegt.
    Plötzlich fühlt sie sich erdrückt von der Anwesenheit zweier Rabbis in ihrem Haus. »Ich bin keine Jüdin. Ich bin gar nichts.« Sie blickt auf Faith. »Wir sind nichts. Ich denke, Sie sollten jetzt gehen.«
    Rabbi Solomon reicht ihr zum Abschied die Hand. »Würden Sie über das nachdenken, was ich sagte?«
    Mariah zuckt die Achseln. »Ich

Weitere Kostenlose Bücher