Die Wahrheit der letzten Stunde
weiß nicht. Wenn ich meine Tochter anschaue, sehe ich nicht die Präsenz Gottes, Rabbi Solomon. Wenn ich sie anschaue, denke ich nicht, dass sie erfüllt ist von göttlichem Licht. Ich sehe nur ein Kind, das in immer größere Verwirrung gestürzt wird von allem, was um es herum vorgeht.«
Rabbi Solomon strafft die Schultern. »Seltsam. Genau das haben vor zweitausend Jahren viele Juden über Jesus gesagt.«
10. Oktober 1999
Das Letzte, was Vater Joseph MacReady tut, bevor er sein Messgewand anlegt, ist, die abgewetzten Cowboystiefel gegen schwarze Priesterschuhe mit weichen Sohlen zu tauschen.
Er rechnet mit einem vollen Haus. Zur sonntäglichen Frühmesse in New Canaan ist die Kirche regelmäßig voll besetzt. Die meisten Katholiken in der Stadt ziehen es vor, auf ein paar Stunden Schlaf zu verzichten und dafür den Rest des Tages im Garten oder auf den Golfplätzen der Nachbarstädte entspannen zu können. Heute, sagt er sich, könnte der große Tag sein. Er stützt die flachen Hände auf den verkratzten Tisch und hebt den Blick zum Kreuzigungs-Fries. Er denkt zurück an diesen Augenblick vor einigen Jahren, als er ziellos über Land gefahren ist und plötzlich erkannt hat, dass er ebenso gut mit seiner Harley in den Pazifik fahren konnte, ohne irgendwohin zu gelangen.
Heute, nach Jahrzehnten der Gottesdienste, betet er immer noch vor jeder Messe und bittet um ein Zeichen, dass er die richtige Entscheidung getroffen hat, um ein Zeichen, dass Gott mit ihm ist. Hoffnungsvoll starrt er noch einen Moment auf das Kreuz. Aber so wie in den vergangenen zwanzig Jahren passiert auch an diesem Morgen nichts.
Vater MacReady schließt die Augen und versucht, den Heiligen Geist einzufangen, bevor er sich zu seinen Schäfchen in die Kirche begibt.
Es sind ganze acht Personen dort.
Verblüfft beginnt er mit der Messe. Seine Gedanken überschlagen sich. Ihm fällt kein einziger Grund ein, weshalb seine Gemeinde im Laufe von nur einer Woche von achtzig auf acht Personen schrumpfen sollte. Ungewöhnlich schnell führt er durch die Heilige Eucharistie und die Predigt, womit er den Messdiener regelrecht schockt, der sonst schon knapp zehn Minuten nach Beginn der Messe ungeduldig wird. Nach dem letzten »Amen« eilt er in die Sakristei, um das Messgewand abzulegen, und wartet dann an der Hintertür, um die wenigen Kirchgänger zu verabschieden. Aber als er dort angelangt, ist die Hälfte von ihnen bereits auf dem Parkplatz.
»Marjorie«, ruft er einer älteren Frau zu, die im vergangenen Jahr verwitwet ist. »Was habt ihr es denn heute morgen so eilig? Wo wollt ihr denn hin?«
»O Vater«, entgegnet sie mit Grübchen in den Wangen. »Zum White-Haus.«
Das verwirrt ihn nur noch mehr. »Zum Weißen Haus? Sie fahren nach Washington?«
»Nein, nein. Zu dem kleinen Mädchen. Faith White. Sie sieht Gott, wissen Sie. Wenngleich ich persönlich nicht der Ansicht war, dass es rechtfertige, die Messe ausfallen zu lassen.«
»Was ist mit dem kleinen Mädchen?«
»Haben Sie denn diese Woche den Chronicle nicht gelesen? Man sagt, Gott würde zu ihr sprechen. Es hat sogar ein paar Wunder gegeben. Soweit ich weiß, hat sie eine Frau, die schon tot war, wieder zum Leben erweckt.«
»Wissen Sie, was?« sagt Vater Joseph nachdenklich. »Vielleicht schaue ich auch mal vorbei.«
Mariah dreht den Kirschholzstab in der Drechselbank und sieht zu, wie die Holzspäne durch die Luft fliegen, als sie den Beitel an das Holz hält. Aus dem Zylinder soll das vierte Bein eines Esszimmertisches im Queen-Anne-Stil werden für das Puppenhaus, an dem sie gerade arbeitet. Ihr Blick gleitet zu ihrer Werkbank, wo die drei anderen sorgfältig gedrechselten Beine neben der kleinen ovalen Tischplatte liegen.
Heute ist eigentlich nicht der richtige Tag für die Möbelherstellung. Eigentlich sollte sie gar nicht arbeiten, zumindest nicht nach dem von ihr selbst erstellten Terminplan. Aber in letzter Zeit ist nichts mehr so gelaufen wie geplant. Den gestrigen Tag hat sie darauf verwandt, die Entlassung ihrer Mutter aus dem Krankenhaus durchzusetzen, nachdem Kardiologen sie über eine Woche den verschiedensten Untersuchungen und Tests unterzogen haben. Mariah hätte ihre Mutter gern zu sich geholt, aber Millie wollte nichts davon hören. »Zu dir sind es nur fünf Minuten«, hatte sie Mariah erklärt. »Was soll schon passieren?« Letztlich hatte Mariah nachgegeben, wohl wissend, dass sie ihre Mutter dazu bewegen konnte, wenigstens die Tage auf der Farm
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