Die Wahrheit der letzten Stunde
zu verbringen, indem sie ihr einfach sagte, Faith brauche Gesellschaft. Sie war ihrer Mutter behilflich gewesen, sich daheim wieder einzurichten, und es hatte nur einen unbehaglichen Moment gegeben, als sie beide beim Anblick des Sarg-Tisches gestutzt hatten. Ihre Mutter hatte kein Wort des Protestes verlauten lassen, als Mariah das Möbelstück in die Garage verfrachtet hatte. Aus den Augen, aus dem Sinn.
Heute möchte Mariah verlorene Zeit wieder gutmachen. Sie zieht ein Lineal aus der Brusttasche und misst die Länge an der Drehbank nach. Es fehlen zwei Millimeter. Sie wird noch einmal von vorn anfangen müssen. Als sie gerade das Holz seufzend wegwirft, läutet es an der Haustür.
Es ist ein ungewohntes Geräusch - in letzter Zeit hat sich niemand mehr an der Polizeisperre oben an der Auffahrt vorbei gewagt. Vielleicht ist es der Postbote mit einem Päckchen oder der Heizöllieferant.
Sie öffnet und sieht sich einem Priester gegenüber. Ein angespannter Zug liegt plötzlich um ihren Mund. »Wie kommt es, dass die Polizei Sie vorbeigelassen hat?«
»Ein Vorteil meines Berufsstandes«, gibt Vater Joseph ungerührt zu. »Wenn Gott eine Tür verschließt, öffnet Er ein Fenster. Oder Er postiert wenigstens einen braven katholischen Beamten in Ihrer Auffahrt.«
»Vater«, sagt Mariah ergeben. »Ich weiß Ihren Besuch zu schätzen. Ich kann Ihre Beweggründe sogar verstehen. Aber…«
»Ach ja? Ich für meinen Teil bin nicht sicher, was ich eigentlich hier will.« Er lacht. »Die Bänke in der Sankt-Elizabeth-Kirche sind heute Morgen leer geblieben. Offenbar ist Ihre Tochter eine ernstzunehmende Konkurrenz.«
»Nicht mit Absicht. Ich glaube nicht, dass wir bereit sind für eine weitere religiöse Debatte«, fährt Mariah fort. »Freitag waren zwei Rabbis hier und haben über jüdischen Mystizismus doziert…«
»Sie wissen doch, was man über Mystizismus sagt: Fängt mit« Mist an, endet mit muss.«
Mariah muss wider Willen lächeln. »Wir sind noch nicht einmal katholisch.«
»Das habe ich gehört. Episkopalkirche und jüdischen Glaubens, richtig?«
Mariah lehnt sich gegen die Türzarge. »Richtig. Warum also sollten Sie sich für uns interessieren?«
Joseph zuckt die Achseln. »Wissen Sie, als ich noch Kaplan in Vietnam war, bin ich dem Dalai Lama begegnet. Wir waren zu mehreren und überlegten vor dem Besuch lange, was wir ihm zu essen und zu trinken vorsetzen und wie wir ihn anreden sollten. >Eure Heiligkeit< meinte einer von uns, obwohl das eigentlich die Anrede für den Papst war, und glauben Sie mir, wir haben uns in diesem Punkt ganz schön gefetzt. Und wissen Sie was, Mrs. White? Der Dalai Lama … er war von einer Energie umgeben, wie ich sie noch nie zuvor gespürt hatte. Er ist ganz sicher kein Katholik, und doch möchte ich die Möglichkeit nicht ausschließen, dass er eine Person sehr tiefreichender spiritueller Erleuchtung ist.«
Ein Grübchen erscheint auf Mariahs Wange. »Vorsicht, Vater. Das könnte als Grund für die Exkommunikation ausgelegt werden.«
Er lächelt. »Seine Heiligkeit hat ganz andere Sorgen, als meine Verfehlungen zu ahnden.«
Er hat etwas so Säkulares an sich, dass Mariah durch den Kopf geht, dass sie - unter anderen Umständen - diesen Fremden auf einen Kaffee hereinbitten würde. »Vater …«
»Joseph. Joseph MacReady.« Er grinst. »Immer ready, allzeit bereit.«
Mariah lacht laut auf. »Sie gefallen mir.«
»Sie gefallen mir auch, Mrs. White.«
»Trotzdem denke ich, dass Sie jetzt gehen sollten.« Sie schüttelt ihm die Hand. Ihr ist nicht entgangen, dass er Faith mit keinem Wort erwähnt hat. »Wenn ich Sie brauche, rufe ich die Kirche an. Aber bisher gibt es keine Beweise dafür, dass sich tatsächlich irgendwelche Wunder ereignet haben.«
»Richtig, bisher ist es nur Hörensagen. Andererseits haben auch Matthäus, Markus, Lukas und Johannes nur weiterzählt, was sie gesehen haben.«
Mariah verschränkt die Arme über der Brust. »Glauben Sie wirklich, dass Gott zu einem Kind sprechen würde? Noch dazu zu einem Kind, das zumindest technisch gesehen jüdischen Glaubens ist?«
»Soweit ich informiert bin, Mrs. White, hat Er das schon einmal getan.«
11. Oktober 1999
»Den Filter einen Zentimeter weiter nach rechts«, gibt der Producer Anweisung und blickt dann wieder mit schräggeneigtem Kopf auf die Kameraeinstellung auf dem Monitor. Die Scheinwerfer, die Elektriker und Beleuchter aufgestellt haben, sind so grell, dass Teresa Civernos blinzelt
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