Die Wahrheit der letzten Stunde
und instinktiv die Augen des kleinen Rafael abschirmt. Er schlägt ihre Hand jedoch fort, und zum hundertsten Mal an diesem Tag staunt sie über seine Kraft und Motorik. Sie drückt ihn fest an sich und küsst ihn auf die glatte, makellose Stirn.
»Wir wären dann soweit, Miss Civernos.« Die Stimme ist weich wie Honig und gehört zu Petra Saganoff, der Starreporterin von Hollywood Tonight!
Im Hintergrund blickt der Producer auf. »Können Sie das Kind etwas näher bringen? Ja, so ist es perfekt.« Er gibt mit einer Hand das Okay-Zeichen.
Petra Saganoff wartet, bis die Visagistin ihr Gesicht ein letztes Mal abgepudert hat. »Erinnern Sie sich an das, was ich Sie gleich fragen werde?«
Teresa nickt und blickt nervös auf die zweite Kamera, die auf sie selbst und das Baby gerichtet ist. Sie hält sich noch einmal vor Augen, dass es allein ihre Idee war und nicht die der Reporter. Sie wollte ursprünglich in St. Jude eine neuntägige Andacht halten, über die im Globe berichtet werden sollte, aber dann hatte sie sich gedacht, dass es eine Möglichkeit gab, mehr Menschen zu erreichen. Ihr Vetter Luis arbeitete in L.A. auf dem Gelände von Warner Brothers, wo auch die Studios von Hollywood Tonight! untergebracht waren. Er war mit dem Mädchen befreundet, das für Petra Saganoffs Garderobe zuständig war. Teresa hatte ihn gebeten zu fragen, ob sie vielleicht an ihrer Geschichte interessiert wären. Und vierundzwanzig Stunden, nachdem Rafael als gesund aus dem Mass General entlassen worden war, saß Petra Saganoff in Teresas winziger Wohnung in Southie und nahm ein erstes Interview für die spätere Übertragung auf.
»Drei«, sagt der Kameramann. »Zwei… Eins … und …« Er zeigt auf Petra.
»Ihr Baby hat nicht immer so gesund ausgesehen, nicht wahr?«
Teresa fühlt, wie sie errötet. Petra hat gesagt, ich soll nicht rot werden, ermahnt sie sich. »Das stimmt. Noch vor wenigen Tagen war Rafael als Aids-Patient im Massachusetts General Hospital in Behandlung«, antwortet Teresa. »Er wurde über eine Bluttransfusion bei der Geburt infiziert. Letzte Woche war er noch blass und lustlos, litt an Soor, an chronischer Polyarthritis und Oesophagitis. Die Zahl seiner CD-Vier-Zellen lag bei fünfzehn.« Sie drückt das Baby fester an die Brust. »Sein behandelnder Arzt sagte, er hätte maximal noch einen Monat zu leben.«
»Was ist passiert, Mrs. Civernos?«
»Ich hörte von etwas. Von jemandem, meine ich. In New Hampshire gibt es ein Mädchen, von dem man behauptet, es spräche mit Gott. Meine Nachbarin pilgert zu Schreinen und solchen Orten, und sie fragte, ob ich sie nicht begleiten wollte. Ich sagte mir, dass ich nichts zu verlieren hätte.« Teresa streicht Rafael über das Haar. »Rafael hatte Fieber, als wir dort ankamen, darum ging ich mit ihm kurz vor Morgengrauen draußen spazieren. Da kam dieses Mädchen - ihr Name ist Faith - aus dem Haus. Sie hatte einen Puppenwagen bei sich und fragte, ob sie mit meinem Sohn spielen dürfe. Etwa eine Stunde fuhr sie ihn spazieren, lachte mit ihm und tat so, als würde sie ihn füttern.« Teresa blickt auf, Tränen in den Augen. »Sie hat ihn berührt. Sie hat ihn hierhin geküsst, wo er einen Ausschlag hatte. Und dann sind wir nach Boston zurückgefahren.
Gleich am nächsten Tag bin ich mit ihm ins Krankenhaus gegangen, und die dortigen Ärzte erkannten ihn nicht wieder. Sein Ausschlag war über Nacht abgeheilt. Seine Infektionen waren verschwunden. Die Zahl seiner T-Zellen lag bei zweiundzwanzigtausend.« Sie strahlt Petra an. »Man hat mir gesagt, das wäre medizinisch unmöglich. Dann haben sie erklärt, Rafael wäre kein Aids-Patient mehr.«
»Wollen Sie damit sagen, dass Ihr Sohn von Aids geheilt wurde, Mrs. Civernos?«
»Ich glaube daran«, antwortet Teresa. »Gott hat dieses kleine Mädchen berührt, diese Faith. Es ist ein Wunder. Und ich kann gar nicht sagen, wie dankbar ich ihr bin.« Sie schmiegt die Wange an Rafaels Kopf.
Der Producer gibt dem Kameramann ein Zeichen abzubrechen. Petra klopft eine Zigarette aus einem silbernen Etui und berät sich mit ihrem Producer. Beide haben Teresa den Rücken zugekehrt. »Stimmt«, sagt er und lacht über etwas, das Petra gesagt hat. »Offenbar fühlen sich Spinner zu dir hingezogen wie Motten vom Licht.«
Teresa hört, was er sagt. »Das ist kein Scherz. Es ist wirklich passiert.«
»Klar.« Petra grinst. »Und ich bin die Jungfrau Maria.«
»Es stimmt. Sie hat ihre eigene verstorbene Großmutter ins Leben
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