Die Wahrheit der letzten Stunde
ist aber kein richtiges Weglaufen.«
Ihre Stimme klingt so müde, so weise, dass Ian das schlechte Gewissen plagt. »Gefällt es dir denn nicht, wenn … wenn so viele Leute sich für dich interessieren?«
Faith starrt ihn an, als hätte er den Verstand verloren. »Würde Ihnen das gefallen?«
Um ehrlich zu sein, ja, es würde ihm gefallen … genau das ist ja der Antrieb, die Einschaltquoten in die Höhe zu treiben. Aber er muss zugeben, dass das nicht jedermanns Traum ist. Ganz sicher nicht der eines Kindes, das gegen seinen Willen für die Zwecke eines anderen benutzt wird. Ian fragt sich, ob er sich Faith White möglicherweise zur Verbündeten machen kann. »He, kannst du mir bei etwas helfen?« Ian holt ein Kartenspiel aus der Tasche - Solitär hilft ihm manchmal dabei, eine lange Nacht zu überstehen. »Ich übe da einen Trick ein, und ich bin nicht sicher, ob ich es richtig mache.« Er mischt die Karten und fordert sie dann auf, eine beliebige Karte zu ziehen. Faith tut wie geheißen, wobei ihre Handschuhe mehrmals von den Karten abrutschen. »Jetzt merke dir, welche Karte das ist? Okay? Steck sie wieder irgendwo rein.«
Kichernd befolgt Faith seine Anweisung. Ian dankt im Stillen Onkel Beauregard dafür, dass er ihm den einen und einzigen Zaubertrick beigebracht hat, den er je zu lernen gewillt war. Er mischt die Karten auf spektakuläre Weise, indem er sie von einer Hand in die andere fliegen lässt, und fordert dann Faith auf, auf die oberste Karte zu klopfen. »Karosieben«, erklärt er. »Deine Karte.«
Sie hebt die Karte ab und schnappt nach Luft. »Wie haben Sie das gemacht?«
»Ich werde dir das Geheimnis meines Zaubers verraten«, sagt er, »wenn du mir dafür das Geheimnis deines Zaubertricks verrätst.«
Faith macht ein langes Gesicht. »Ich kann keinen Zaubertrick.«
»Oh, da bin ich mir nicht so sicher.« Ian setzt sich neben Faith auf den Baumstamm und verschränkt die Hände zwischen den Knien. »Erstens: Wie hast du deine Großmutter gesund gemacht?«
Er kann fühlen, wie Faith sich versteift. »Ich will Ihren blöden Kartentrick gar nicht lernen.«
»Weißt du, ich habe schon viele andere Leute kennen gelernt, die glauben, sie könnten andere heilen. Manche von ihnen waren einfach Hypnotiseure. Sie haben die Kranken davon überzeugt, dass sie sich besser fühlen, während sie tatsächlich so krank blieben wie zuvor. Einige von ihnen haben Kranken tatsächlich Linderung verschafft, über eine Art Elektrizität, die sie in sich tragen und auf andere übertragen können.«
»Elektrizität?«
»Strom. Ähnlich wie dem leichten Schlag, den man manchmal fühlt, wenn man einen Fernsehschirm anfasst. Bssst. Du weißt schon.«
Faith steht auf und streckt beide Hände aus. »Fassen Sie mich an«, fordert sie ihn auf.
Langsam, ohne den Blick von ihrem Gesicht abzuwenden, greift Ian nach ihren Händen. »Du musst die Handschuhe ausziehen.«
Sofort zuckt Faith zurück und versteckt die Hände hinter dem Rücken. »Das geht nicht.«
Ian zuckt die Achseln. Ich habe es ja gesagt.
»Es geht wirklich nicht«, wiederholt Faith flehentlich.
Es ist lange her, dass Ian sieben war. Er versucht, sich zu erinnern, was auf dem Spielplatz funktioniert hat. »Lügnerin.«
Das bin ich nicht!«, beharrt Faith sichtlich bekümmert. »Fragen Sie mich etwas anderes!«
»Okay.« Ian kämpft nicht mit fairen Mittel — er ist dabei, eine Siebenjährige hereinzulegen, um Himmels willen -, aber andererseits hat er sich noch nie durch besondere Fairness hervorgetan. Er hat Faith genau da, wo er sie braucht: zornig zu ihm aufblickend und so sehr darauf erpicht, sich zu beweisen, dass sie gar nicht anders kann, als die List zu verraten.
»Fragen Sie«, bettelt sie noch einmal.
Ian denkt an alles, was er wissen möchte: Wer in der ganzen Sache mit drinsteckt, wer davon profitiert, wie es ihnen gelungen ist, das Krankenhauspersonal hinters Licht zu führen? Aber als er schließlich spricht, überrascht ihn selbst, was er sagt: »Wie sieht Gott aus?«
Faith setzt zu einer Erwiderung an. »Gott…«, beginnt sie und wird dann ohnmächtig.
Ian reagiert reflexartig und kann das Mädchen auffangen, bevor es sich den Kopf an dem Baumstamm, einem Stein oder an der Baumwurzel anschlägt. »Faith«, sagt er und schüttelt sie sanft. »Komm zu dir!« Er legt sie vorsichtig auf den Boden und fühlt ihren Puls. Er streicht Blätter aus ihrem Gesicht.
Als er sich die Hände an seinem Regenmantel abwischen will, erkennt er,
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