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Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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etwas rechnen? Und dann werden sie weggehen, nur sie beide und vielleicht noch Oma, und diese blöden Leute im Vorgarten sich selbst überlassen.
    Leise wie eine Libelle stiehlt sie sich durch die Schiebetür.
     
    Wo zum Teufel will sie denn jetzt wieder hin?
    Zum ersten Mal erweist sich Ians Schlaflosigkeit als Vorteil. Als er gerade einen Blick aus dem Fenster des Winnebago wirft, sieht er gerade ein Licht in dem Wäldchen auf dem White-Grundstück verschwinden. Leise öffnet er die Tür des Wohnmobils und steigt aus. Als er fast den Waldrand erreicht hat, fängt er an zu laufen und lauscht angestrengt auf Schritte von Kinderfüßen, so leise wie Schneeflocken.
    Da. Wieder sieht er das Licht aufblitzen, das vorhin seine Aufmerksamkeit erregt hat. Jetzt erkennt er es als ein Licht, das von etwas reflektiert wird. Ein Dreieck. Das Mondlicht wird von ihrer Jacke oder ihrem Sweatshirt reflektiert, einem Reflektorstreifen. »He!«, ruft er leise, und Faith erstarrt. Sie dreht sich um, sieht ihn und rennt los. Mit einem geschmeidigen Sprung bekommt Ian sie zu fassen und rollt sich gleich darauf ab, sodass sein Körper ihren Fall dämpft. Ihr Gewicht prallt so unsanft auf seine Brust, dass er einen Moment lang keine Luft mehr bekommt. Er packt fester zu, und das Mädchen tritt ihn gegen die Schienbeine. »Hör auf damit!«, schimpft er und schüttelt sie. »Du tust mir weh.«
    »Sie tun mir auch weh!«, schreit Faith zurück.
    Er lockert seinen Griff. »Wirst du weglaufen, wenn ich dich loslasse?« Als sie daraufhin feierlich den Kopf schüttelt, lässt er ihre Arme los. Sofort rappelt Faith sich auf und sprintet ins Dickicht.
    »Gottverdammt!« Ian setzt ihr nach, bekommt einen Ärmel ihrer Fleecejacke zu fassen und holt Faith ein wie einen wütenden, kämpfenden Fisch am Haken. »Du hast gelogen.«
    »Nein«, entgegnete Faith, der langsam die Puste ausgeht. »Habe ich nicht.«
    Ian geht auf, dass sie jetzt von etwas völlig anderem sprechen. »Ist es nicht etwas spät für dich, um noch draußen zu spielen?«
    »Ich laufe weg. Es gefällt mir hier nicht mehr.«
    Ian fühlt, wie seine Brust sich zusammenzieht. Der Zweck heiligt die Mittel, ermahnt er sich. »Und deine Mutter ist damit einverstanden, dass du dich bei Nacht und Nebel davonstiehlst?«
    Faith lässt den Kopf hängen. »Ich werde es ihr sagen. Ich verspreche es.« Sie blickt sich um. »Wissen Sie, wo das nächste Telefon ist?«
    »In meiner Tasche. Warum?«
    Sie mustert ihn mit einem Blick, der verrät, für wie dämlich sie ihn hält. »Um meine Mutter anzurufen, wenn ich da bin.«
    Ian tastet seine Jackentaschen ab und fühlt die Wölbung seines Handys. Wenigstens hat er jetzt ein Pfand. »Wenn du deine Mutter von dort anrufen willst, wo du hingehst, musst du mein Telefon mitnehmen. Und ohne mich geht mein Telefon nirgendwohin.« Er macht eine kurze Pause, um ihr Zeit zu geben, seiner Logik zu folgen. »Außerdem solltest du wohl nicht allein im Dunkeln herumlaufen.«
    Faith senkt den Blick. »Ich darf nicht mit Fremden mitgehen.«
    Ian lacht. »Kennst du mich nicht inzwischen lange genug, dass ich kein Fremder mehr bin?«
    Sie denkt darüber nach. »Meine Mutter sagt, Sie wären eine Gefahr.«
    »Aha, siehst du. Sie hat nicht gesagt, ich wäre ein Fremder.« Er zeigt ihr das Handy und lässt es gleich darauf wieder in die Tasche zurückgleiten. »Abgemacht?«
    »Ich denke schon«, brummt Faith unwillig. Sie setzt sich wieder in Bewegung, und Ian schließt sich ihr an. Er denkt an all die Dinge, die fehlen — Tontechniker und Kamerateam vor allem—, aber ein improvisiertes nicht aufgezeichnetes Interview ist sicher besser als gar keins. Wenn er den Knackpunkt dieser Geschichte aufdeckt, kann die Enthüllungsstory am nächsten Tag folgen.
    Sie sind noch nicht weit gegangen, als Faith sich ganz außer Atem auf einen verrotteten Baumstamm sinken lässt. Das überrascht ihn; er hätte geglaubt, Kinder hätten mehr Energie. Er versucht, in dem fahlen Mondlicht, das durch die Bäume fällt, ihr Gesicht zu sehen. Sie sieht bleich und gespenstisch aus. »Alles in Ordnung mit dir?«
    »Ja«, entgegnet sie leise. »Ich bin nur müde.«
    »Du müsstest ja auch längst im Bett sein. Wie bist du überhaupt an deiner Mutter vorbeigekommen?«
    »Sie duscht gerade.«
    Ian ist beeindruckt. »Ich bin auch einmal von zu Hause weggelaufen. Ich war damals fünf. Ich habe mich drei Stunden unter der Schutzhülle des Grills versteckt, bevor mich jemand gefunden hat.«
    »Das

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