Die Wahrheit der letzten Stunde
dass er blutverschmiert ist.
Mit klopfendem Herzen untersucht er seine eigene Brust und Taille. Aber er ist unverletzt, und auch eine rasche Untersuchung von Faith’ Oberkörper fördert keine Wunde zutage. Sein Blick fällt auf ihre roten Handschuhe, die sich leuchtend von dem bemoosten Erdboden und dem Laub abheben.
Vorsichtig schält er sie von ihrer Hand. »Heilige Scheiße«, entfährt es ihm. Dann hebt er Faith vom Boden auf und trägt sie so schnell er kann zurück zu Mariah Whites Haus.
Es klingelt, als sie sich gerade ein Handtuch um das nasse Haar wickelt. Sie verknotet hastig den Gürtel ihres Morgenmantels und jagt die Treppe hinunter. Es ist halb elf, um Himmels Willen. Und in diesem Haus schläft ein Kind. Wer ist nur so dreist, sie um diese Zeit noch zu stören?
Als sie nach dem Türknauf greift, beginnt die Person draußen gegen die Tür zu hämmern. Mit zusammengebissenen Zähnen reißt Mariah die Tür auf und sieht sich Ian Fletcher gegenüber. Aber ihr Zorn verfliegt schlagartig, als sie die leblose Faith in seinen Armen sieht.
»Oh …« Mariahs Stimme bebt, und sie tritt zurück, um Ian hereinzulassen.
»Sie ist im Wald gewesen.« Ian sieht zu, wie Maria Faith’ Schläfen und ihre Wangen fühlt. »Sie blutet. Wir müssen sie ins Krankenhaus bringen.«
Mariah schlägt eine Hand vor den Mund und unterdrückt ein Schluchzen. Sie zieht Faith’ Ärmel hoch, in der Erwartung, einen Schnitt in Höhe der Pulsader zu finden, aber Fletcher zieht stattdessen ihren Handschuh herunter. »Kommen Sie!«, drängt er. »Worauf warten Sie noch?«
»Nichts …« Mariah läuft nach oben und steigt hastig in Kleider, die sie wieder aus dem Wäschekorb geholt hat. Dann reißt sie die Wagenschlüssel und ihre Handtasche von der Hakenleiste neben der Haustür.
Am anderen Ende des Gartens scharen sich wieder die Schaulustigen. Die meisten gelangweilten Reporter auf ihren Beobachtungsposten haben aufgemerkt, als ausgerechnet Ian Fletcher das Mädchen zum Haus getragen hat. Videokameras fangen an zu surren, Blitzlichter flammen auf wie Feuerwerkskörper, und über alledem liegt der Refrain der Menschen, die die bewusstlose Faith um Hilfe anrufen.
Mariah hält Ian die hintere Wagentür auf, und wortlos steigt er mit Faith ein und bettet sie auf seinen Schoß.
Mariah setzt sich ans Steuer. Ihre Hände zittern auf dem Lenkrad. Sie fährt rückwärts aus der Auffahrt, wobei sie sich bemüht, keinen der Schaulustigen anzufahren, die es sich nicht nehmen lassen, den vorbeifahrenden Wagen zu berühren.
Mariah begegnet im Rückspiegel Ians Blick. »Wie ist das passiert?«
»Ich weiß es nicht.« Ian streicht Faith das Haar aus der Stirn, eine Geste, die Mariah nicht entgeht. »Ich glaube, sie war schon verletzt, als ich sie gefunden habe.«
Mariah folgt in gemäßigtem Tempo einer abschüssigen Kurve. Hat Faith versucht, sich das Leben zu nehmen? Sie fragt Ian Fletcher nicht, was sie am meisten beschäftigt: Wie kommt es, dass Sie bei ihr waren? Warum ist meine eigene Tochter nicht zu mir gekommen?
Sie biegt in die Zufahrt zur Notaufnahme des Connecticut Valley Medical Center ein. Dort hält sie am Straßenrand und eilt Ian voraus ins Gebäude, wo sie geradewegs auf den Empfang zusteuert. Mariah ist entschlossen, wie eine Löwin zu kämpfen, damit Faith vorrangig versorgt wird, aber die Krankenschwester wirft nur einen Blick auf das bewusstlose Kind und das Blut auf Ians Mantel und ruft sofort nach einer Trage und einem Arzt. Mariah kann kaum mit ihnen Schritt halten, als Faith weggebracht wird.
Sie denkt gar nicht daran, Ian aufzufordern mitzukommen, ist aber nicht überrascht, als er sich ganz selbstverständlich anschließt. Und sie nimmt nur am Rande wahr, wie sie schwankt, als der Rest des Handschuhs von Faith’ Fingern geschnitten wird, und Ian sie mit einer Hand stützt.
»Vitalfunktionen?«
»Blutdruck hundert zu sechzig, schwacher Puls.«
»Legen wir eine Infusion, und ich will ein Blutbild. Blutgruppe und Kreuzblut, eine toxikologische Untersuchung, eine Elektrolyt-Bestimmung.« Der Arzt wirft einen Blick auf Faith’ reglosen Körper. »Wie heißt sie?«
Mariah möchte antworten, aber ihre Stimme gehorcht ihr nicht. »Faith«, antwortet Ian für sie.
»Okay, Faith«, sagt der Arzt, das Gesicht ganz dicht über ihrem. »Wach auf, Schätzchen, tu mir bitte den Gefallen.« Er blickt zu einer Krankenschwester auf. »Besorgen Sie Druckverbände«, befiehlt er und richtet dann den Blick auf
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