Die Wahrheit der letzten Stunde
Mariah. »Hat sie vielleicht irgendwelche Tabletten geschluckt? Oder etwas aus dem Putzschrank?«
»Nein«, entgegnet Mariah geschockt. »Nichts dergleichen.«
Ian räuspert sich. »Sie hat geblutet, als ich sie gefunden habe. Sie trug Handschuhe, deshalb habe ich es nicht gleich gemerkt. Und dann ist sie ohnmächtig geworden.« Er sieht auf die Uhr. »Das war vor etwa einer halben Stunde.«
Ein Assistenzarzt fährt mit den Händen an Faith’ Fuß entlang. »Keine Kernig- oder Brudzinksi-Symptome.«
»Für mich sieht das nicht aus wie Stichwunden«, meint eine Krankenschwester, und der zuständige Arzt baut sich neben ihr auf und fängt an, Faith’ Oberarm zu drücken. »Die Blutung lässt nicht nach. Ich möchte einen Gefäßchirurgen konsultieren.« Er blickt zu Ian auf. »Sind Sie der Vater?«
Ian schüttelt den Kopf. »Ein Freund.«
Mariah kommen sie vor wie riesige Geier, die Faith’ kleinen Körper umkreisen, um sich auf ihre noch unversehrten Gliedmaßen zu stürzen. Eine Schwester hebt Faith’ rechte Hand und drückt in Höhe der Brachialarterie auf den Oberarm. Einen kurzen Moment lang kann Mariah durch ein stecknadelkopfgroßes Loch hindurch Licht sehen - ein ganz feiner, gerader Tunnel zieht sich geradewegs durch die Handfläche.
Unvermittelt zuckt Faith mit einem Fuß und trifft einen Assistenzarzt am Kinn. »Neiiiin!«, schreit sie und versucht, sich von den Krankenschwestern loszureißen, die sie bei den Armen auf dem Behandlungstisch festhalten. »Nicht! Das tut weh!«
Mariah tritt einen Schritt vor und fühlt gleich darauf Ians Hand auf ihrer Schulter. »Sie wissen, was sie tun«, murmelt er, als der Doktor beruhigend auf Faith einredet.
»Wie hast du dir die Hände verletzt, Faith?«, fragt er.
»Das habe ich nicht. Ich mich nicht… Au! Aufhören! Mami, sag ihnen, sie sollen aufhören!«
Mairah schüttelt Ians Hand ab, eilt auf die Trage zu und legt ihrer Tochter eine Hand auf den Oberschenkel, bevor sie unsanft von ihr weggezerrt wird. »Schaffen Sie sie hier raus!«, brüllt der Arzt, seine Stimme fast übertönt von Faith’ Kreischen. Aber je weiter man sie von Faith fortbringt, desto hysterischer schluchzt diese, und es dauert eine Weile, ehe Mariah in Ians Armen erkennt, dass das, was sie hört, ihr eigenes Weinen ist.
Krankenhäuser strahlen bei Nacht einen ganz speziellen Frieden aus, so als wären die Menschen, die jenseits des Stöhnens, der Seufzer und der gedämpften Pieptöne noch durch die Flure wandern oder an Betten ausharren, in einem gemeinsamen Ziel vereint. Man kann im Fahrstuhl einer Frau begegnen und einfach so ihr Leid erkennen. Man kann am Kaffeeautomaten neben einem Mann stehen und weiß, dass er gerade von dem Hoch runterkommt, das die Euphorie der Geburt seines Kindes ausgelöst hat. Man ertappt sich dabei, wie man sich nach der Geschichte eines Fremden erkundigt; man fühlt eine Verbundenheit mit Menschen, an denen man auf der Straße einfach vorbeigehen würde.
Mariah und Ian stehen wie Wächter am Fußende von Faith’ Bett auf der Kinderstation. Sie schläft jetzt ruhig, ihre bandagierten Hände mit den weißen Laken verschmolzen. »Q-Tips«, murmelt Ian.
»Was ist?«
»Ihre Arme sehen aus wie Wattestäbchen«, sagt Ian leise.
Mariah lächelt, eine Bewegung, die so fremd ist nach der Anspannung der vergangenen Stunden, dass sie bei dieser Mimik die Falten auf ihrem Gesicht fühlen kann. Faith dreht sich auf die Seite und schläft dann friedlich weiter. Ian zeigt stumm auf die Tür, die Brauen fragend gewölbt. Mariah folgt ihm nach draußen und geht den Flur hinunter, vorbei am Schwesternzimmer und der Tür zu den Fahrstühlen. »Ich habe mich noch nicht bei Ihnen dafür bedankt, dass Sie sie nach Hause gebracht haben.« Sie verschränkt die Arme; plötzlich ist ihr kalt. »Dafür, dass Sie nicht eine Kamera gezückt und Faith abgelichtet haben, als es passierte.«
Ian sieht ihr in die Augen. »Woher wollen Sie das wissen?«
Ihr Mund und ihre Kehle sind knochentrocken. Sie sieht Ian im Fond sitzen, Faith auf dem Schoß. »Ich weiß es einfach«, sagt sie.
Sie sind vor der Säuglingsstation stehen geblieben, wo die Neugeborenen pastellfarben gekleidet und in Decken gewickelt Seite an Seite liegen wie Waren in einem Supermarktregal. Einer der Säuglinge befreit eine Hand von der Decke und öffnet die Blütenblätter seiner Finger. Mariah kann nicht anders als die winzige, rosige, gesunde Handfläche zu sehen.
»Glauben Sie?«
Ian starrt auf
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