Die Wahrheit der letzten Stunde
baumeln. »Wenn deine Mami das sieht, bekommt sie einen Anfall.«
Faith wirft einen Blick über die Schulter. »Sie wird nur davon erfahren, wenn Sie ihr erzählen, dass Sie mich mit nach draußen genommen haben, und dann wird sie zu wütend auf Sie sein, um noch mit mir zu schimpfen.«
»Dann sind wir wohl so etwas wie Komplizen.« Ian reicht ihr die Hand, um ihr beim Aufstehen zu helfen. »So, weißt du, wie man die Leine auswirft? War dein Papa schon mal mit dir angeln?«
»Nein. Hat Ihrer Sie zum Angeln mitgenommen?«
Einfach so, Faith’ Hand noch in der seinen. Sie blickt aus zusammengekniffenen Augen zu ihm auf, ihr Gesicht teilweise im Schatten. »Nein«, entgegnet er. »Ich kann mich nicht erinnern.« Er legt die Arme von hinten um sie und umfasst ihre Hände. Ihre Haut ist warm und unbeschreiblich weich; er kann fühlen, wie ihre Schulterblätter gegen seine Brust stoßen. »So.« Er holt mit der Rute aus und wirft die Leine aus.
»Und was jetzt?«
»Jetzt warten wir.«
Sie setzen sich beide auf den Steg, und Faith fährt mit dem Daumennagel die Rillen in den Planken des Anlegers nach. Sie hebt das Gesicht der untergehenden Sonne entgegen und schließt die Augen. Ian starrt wie gebannt auf den kaum merklichen Puls an ihrem Halsansatz. Zwischen ihnen herrscht eine so friedliche Stille, dass es ihm beinahe widerstrebt, sie zu stören, aber seine Neugier ist stärker. »>Folgt mir<«, sagt er leise und beobachtet sie dabei sehr genau; »>und ich werde aus euch Menschenfischer machen<.«
Sie wendet ihm das Gesicht zu. »Wie?«
»Das ist ein Zitat. Ein sehr altes.«
»Es ist dumm. Man kann keine Menschen fischen.«
»Du solltest irgendwann Gott danach fragen«, meint Ian, lehnt sich zurück und legt den Unterarm über die Augen, wobei er darauf achtet, verstohlen darunter hervorsehen zu können.
Faith runzelt die Stirn und will offenbar etwas antworten, überlegt es sich dann aber anders und bohrt stattdessen den Nagel wieder in das Holz des Steges. Ian wartet angespannt auf eine Beichte, aber was immer Faith sagen will, ist vergessen, als sie einen kräftigen Ruck an der Angel spürt. Aufgeregt schreit sie auf. Er zeigt ihr, wie sie ihren Fang einholen muss, ein Prachtexemplar von einem Fisch; mindestens drei Pfund schwer. Dann löst er den Barsch vom Haken und drückt sein Maul auf, damit Faith ihn packen kann.
»Oh«, haucht sie, als sie den Schwanz des Fisches an ihrem Bauch fühlt. Wie süß sie ist, denkt Ian lächelnd. Mit ihrem Haar, das die untergehende Sonne vergoldet, und dem Schmutz an ihrer Wange sieht er in ihr ganz ehrlich nicht eine Story, sondern schlicht ein kleines Mädchen.
Der Fisch fängt an, mit dem Schwanz zu schlagen, versucht, sich zu befreien. »Sehen Sie nur, wie … Oh!« Faith schreit auf und lässt den Barsch fallen - das Letzte, was Ian sieht, bevor sie das Gleichgewicht verliert und vom Steg ins eisige Wasser fällt.
Mariah schreckt aus ihrem schlimmsten Albtraum hoch: Sie hat geträumt, Ian Fletcher wäre mit Faith auf und davon. Sie fährt auf dem Sofa hoch und ruft laut nach ihrer Tochter, obwohl die Stille in der Hütte ihr bereits verraten hat, dass die beiden fort sind. Auf dem Teppich liegen Spielkarten verstreut, so als hätte er sie sich mitten im Spiel geschnappt, als hätte er sie gewaltsam entführt.
Sie wird die Polizei verständigen müssen, aber das scheint ihr ein geringfügiges Opfer zu sein, wenn sie dafür Faith wohlbehalten zurückbekommt. Mit klopfendem Herzen stürzt Mariah aus der Hütte, so aufgeregt, dass sie gar nicht registriert, dass der Mietwagen noch vor dem Haus steht. Sie rennt zum Verwaltungsgebäude, dem nächsten Telefon, und verflucht sich selbst dafür, dass sie Faith Ian Fletcher ausgeliefert hat. Als sie um die Ecke biegt, sieht sie unten am See zwei Silhouetten, die eine groß, die andere klein. Mit grenzenloser Erleichterung bleibt Mariah mit weichen Knien stehen. Sie legt die Hände trichterförmig an den Mund, um sie anzurufen, aber dann stürzt Faith vor ihren Augen ins Wasser.
O Scheiße!, kann Ian gerade noch denken, bevor das Wasser über Faith zusammenschlägt und Mariahs Aufschrei bis zu ihm dringt. Das Wasser muss eisig sein, und er hat keine Ahnung, ob die Kleine schwimmen kann. Das Schlimmste ist aber, dass er nicht einfach hineinspringen und sie packen kann, weil die Gefahr besteht, dass er genau auf ihr landet und sie noch weiter nach unten drückt. Vage nimmt er wahr, wie Mariah schreiend die
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