Die Wahrheit der letzten Stunde
erkennt gleich, dass sich etwas verändert hat. So als wäre die Luft leichter einzuatmen.
»Wie fühlst du dich?«, fragt Mr. Fletcher sie.
»Okay.« Aber dann muss sie niesen.
»Würde mich nicht wundern, wenn sie sich erkältet hätte«, sagt ihre Mutter zu Mr. Fletcher, der nickt. Sie stellt eine Schüssel vor Faith hin.
»Geben Sie ihr Vitamin C. Man kann eine Erkältung abwenden, wenn man nur genug davon nimmt.«
»Das ist ein Ammenmärchen. So wie die Weisheit, man solle eine Kette aus Knoblauchzehen um den Hals tragen.«
Faith blickt von einem zum anderen und fragt sich, wie es möglich ist, dass zwischen dem Einschlafen gestern Abend und dem Aufwachen heute Morgen die ganze Welt auf den Kopf gestellt wurde. Das letzte Mal, als sie Mr. Fletcher und ihre Mutter zusammen gesehen hat, haben sie sich derart angebrüllt, dass ihr Kopf von dem Geschrei gedröhnt hat.
Sie reden immer noch von Medikamenten und vom Krankwerden, als wäre Faith gar nicht vorhanden. Schweigend steht sie auf, durchquert die kleine Küche und schleift eine Trittleiter hinter sich her zur Anrichte. Sie greift nach den Schüsseln im mittleren Fach des Küchenschranks und nimmt eine zweite heraus. Sie gibt Cheerios hinein und stellt sie vor einen freien Platz am Tisch.
»Wenigstens hast du Appetit«, bemerkt Mr. Fletcher.
Faith starrt ihn herausfordernd an. »Das ist nicht für mich. Das ist für Gott.«
Der Löffel ihrer Mutter landet klirrend in ihrer eigenen Schüssel. Faith beobachtet, wie die Erwachsenen einen langen Blick tauschen, sich ein regelrechtes Blickgefecht liefern, bei dem es darum geht, wer zuerst den Blick abwendet. Vor allem ihre Mutter scheint völlig verdattert zu sein und darauf zu warten, dass Mr. Fletcher etwas sagt.
Nach einer Weile greift er nach dem Milchkrug und reicht ihn Faith. »Hier«, sagt er und isst dann seelenruhig noch einen Löffel seiner Cheerios. »Nur für den Fall, dass sie sie nicht trocken mag.«
24. Oktober 1999
Am darauffolgenden Abend liegt Ian auf der Couch und schreibt in ein Notizbuch. Mariah sitzt am Küchentisch. Der durchdringende Geruch von Leim weht durch den Raum, und obwohl er ihre Hände nicht sehen kann, weiß er, dass sie damit beschäftigt ist, etwas zu kleben. In dieser verfluchten Hütte fällt auch alles auseinander.
Plötzlich streckt sie sich, und ihre Brüste drücken sich durch eins der formlosen Flanellhemden, die er für sie besorgt hat. Sie blickt zu ihm herüber und lächelt zögernd. »Woran arbeiten Sie?«
»Das sind nur ganz allgemeine Notizen für eine Sendung.«
»Oh. Ich wusste nicht, dass die Reihe noch läuft.« Sie errötet bei ihren eigenen Worten, die unterschwellige Botschaft war dabei allzu laut und deutlich: Ich wusste nicht, dass Sie gleichzeitig nett sein und uns als Story betrachten können.
»Ich muss meine Brötchen verdienen.«
Bei seinen Worten stöhnt Mariah auf. »Ich habe bestimmt alle Kunden verloren.«
Überrascht, dass sie nicht nur Hausfrau und Mutter ist, wölbt Ian fragend die Brauen. »Kunden? Was machen Sie denn beruflich?«
Sie zögert einen Moment, dann zeigt sie auf den Tisch. »So etwas.«
Er geht rüber und bleibt hinter ihrem Stuhl stehen. Auf einer Papierserviette liegt ein Fächer aus aneinandergeklebten Zahnstochern. Daneben sieht er einen kleinen Zylinder, und vor seinen Augen formt Mariah den Fächer zu einem Strohdach, das sie auf den Zylinder setzt. Fertig ist die Hütte, die im Übrigen keineswegs albern aussieht, sondern erstaunlich wirklichkeitsnah. Indem sie die Hölzer hier und da exakt abgebrochen hat, sind ein Fenster und eine Tür entstanden, und das Ganze sieht aus wie eine Eingeborenenhütte. »Erstaunlich«, sagt Ian, überrascht von ihrem Können. »Dann sind Sie Bildhauerin?«
»Nein, ich bastle Puppenhäuser.« Sie dreht eine Leimperle zwischen den Fingern.
»Und was wollen Sie mit dieser Hütte anfangen?«
»Gar nichts.« Mariah lacht. »Ich habe mich gelangweilt.
Die Zahnstocher waren das Erste, was mir in die Finger gekommen ist.«
Ian lächelt. »Erinnern Sie mich daran, dass ich die Holzlöffel vor Ihnen verstecke.«
Sie lehnt sich in ihrem Stuhl zurück und sieht zu ihm auf. »Ihre Sendungen … wer moderiert sie derzeit?«
»Ich. In Technicolor. Wir senden während meines Aufenthaltes hier Wiederholungen.«
»Und Ihre Notizen?«
»Die sind für die Sendungen nach meiner Rückkehr gedacht«, entgegnet Ian leise. »Wann immer das sein mag.«
»Handeln sie von
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