Die Wahrheit der letzten Stunde
müssen.«
Er kann James förmlich kochen sehen. »Na großartig, Ian, wir haben nämlich bereits eine Livesendung angekündigt. Außerdem sind an die neunzig Reporter hier, darunter auch Medienvertreter, die bundesweit berichten und es gar nicht erwarten können, endlich die Story zu bekommen. Vielleicht sollte ich einen von ihnen bitten, für dich einzuspringen.«
Ian lacht. »Du kannst es ja meinetwegen mit Dan Rather versuchen. Er hat mich einmal in Saturday Night Live sehr treffend parodiert.«
»Es freut mich, dass du heute so heiter bist. Wenn deine Sendung nämlich den Bach runter geht, wird dir das Lachen im Hals stecken bleiben.«
»He, James, beruhige dich, bevor du noch einen Infarkt kriegst. Faith White ist doch noch nicht einmal vor Ort, oder?«
Hierauf folgt eine kurze Pause. »Woher weißt du das?«
»Ich habe meine Quellen. Und ich tue nur, was ich gesagt habe, das ich tun würde. Ich gehe vor Ort einer Geschichte nach.«
James holt tief Luft. »Soll das heißen, dass sie bei dir ist?«
»Ich sage nur, dass ich alles im Griff habe, auch wenn ich mich nicht in deinem Dunstkreis aufhalte.« Er blickt auf seine Armbanduhr. Himmel, inzwischen könnten Mariah und Faith schon halb Missouri durchquert haben - aber dieses Risiko musste er eingehen. Er hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass der beste Weg, einen Schmetterling zu fangen, der ist, ihn nicht zu jagen, sondern sich ganz still zu verhalten, bis er sich aus eigenem Antrieb auf einem niederlässt. »Ich muss los, James. Ich melde mich wieder.«
Ohne seinem Producer die Gelegenheit zu geben, irgendwelche Proteste vorzubringen, schaltet Ian sein Handy aus und steckt es zurück in die Manteltasche. Dann fährt er zurück in Richtung Camp Perry, langsam genug, um nach einer Frau mit einem Kind Ausschau zu halten, die möglicherweise beschlossen haben, sich eine gemütlichere Bleibe zu suchen.
Mariah ist schweißgebadet. Obwohl es draußen ziemlich frisch ist, hat Faith schon nach etwa einer Meile gestreikt, sodass sie ihre Tochter den ganzen Weg bis zur Tankstelle auf dem Rücken tragen musste. Dann hat sie per R-Gespräch daheim angerufen und mit ihrer Mutter gesprochen, während Faith quengelte, dass sie etwas Süßes haben wolle.
»Du bist bei wem?«, hatte ihre Mutter fassungslos gefragt.
»Ich weiß, ich weiß. Aber wir werden weggehen.« An diesem Punkt hatte Mariah die Telefonnummer des örtlichen Taxiunternehmens entdeckt, die in die Wand der Telefonzelle geritzt war. »Ich rufe dich wieder an, sobald wir etwas gefunden haben, wo wir bleiben können.«
Als sie das Taxiunternehmen anruft, hat sie plötzlich ein furchtbar schlechtes Gewissen. Ian Fletcher ist ihnen gegenüber sehr freundlich und hilfsbereit gewesen. Wer weiß, vielleicht ist die Skrupellosigkeit seines Fernseh-Egos nur Theater.
Und doch möchte sie lieber nicht abwarten, bis sich diese Einschätzung als richtig oder falsch erweist.
Faith sitzt auf dem Boden und spielt mit toten Käfern herum, als Mariah auflegt. Das Taxi wird in zehn Minuten da sein. »Was machst du denn da? Du machst dich ja ganz schmutzig.«
»Ich möchte etwas Süßes. Ich habe Hunger.« Mariah kramt in ihrer Hosentasche nach einer Fünfzig-Cents-Münze. »Hol dir dafür etwas.« Sie wischt sich den Schweiß von der Stirn und beobachtet, wie Faith eine Packung Erdnuss-M&Ms auswählt und dem Mann hinter dem Tresen reicht. Er lächelt Mariah zu; sie lächelt zurück.
»Sie sind nicht von hier«, sagt der Mann.
Mariah wird sofort flau im Magen. »Wie kommen Sie darauf?«
Er lacht. »Ich kenne so ziemlich jeden hier im Ort, und Sie gehören nicht dazu. Kommt Ihr Taxi?«
Er musste ihr Telefonat mitgehört haben. Mariahs Gedanken überschlagen sich. »Ja… mein, äh, mein Mann hatte etwas zu erledigen und sollte uns eigentlich hier abholen. Aber ich glaube, meine Tochter hat Fieber, und ich möchte sie ins Motel zurückbringen … Darum habe ich ein Taxi gerufen.«
»Ich richte ihm gerne aus, dass Sie vorausgefahren sind, wenn er herkommt.«
»Das wäre sehr nett«, sagt Mariah und bewegt sich langsam auf die Tür zu, um das Gespräch möglichst bald abzubrechen. »Liebes, warum warten wir nicht draußen?«
»Gute Idee«, sagt der Mann, obwohl sie ihn nicht gemeint hat. »Ich könnte auch etwas frische Luft vertragen.«
Resigniert verlässt Mariah die Tankstelle durch die Glastür und stellt sich neben eine Zapfsäule. Dann hält sie schützend eine Hand über die Augen und hält
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