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Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Böschung hinunterklettert, konzentriert sich aber weiter auf das trübe Wasser, bis er unter der Oberfläche etwas Silbernes ausmacht. Er springt ein Stück weiter links von dort, wo er Faith’ Haar gesehen hat, in den See, öffnet die Augen im aufgewühlten Wasser und bekommt ein paar seidige Strähnen zu fassen.
    Er kann sie sehen, ihre Augen in Panik weit aufgerissen, ihr Mund offen, ihre Hände, die gegen die Unterseite des Stegs drücken, unter den sie geraten ist. Er zieht sie an ihrem Pferdeschwanz unter dem Steg hervor und an die Oberfläche. Mit seiner Hilfe klettert sie hustend und würgend auf den Steg und spuckt Wasser, eine Wange gegen das Holz gepresst.
    Ian zieht sich ebenfalls auf den Anleger, gerade, als Mariah bei ihnen ist, Faith in die Arme schließt, sie an sich drückt und beruhigend auf sie einredet. Erst jetzt gestattet er sich, aufzuatmen, und malt sich aus, was hätte passieren können. Ihm wird bewusst, dass er völlig durchnässt ist und zittert; seine Kleider müssen nass an die fünfzig Pfund wiegen und sind darüber hinaus eiskalt. Nachdem er einen Blick auf Faith geworfen und sich davon überzeugt hat, dass es ihr gut geht, steht er auf und setzt sich langsam in Richtung der Hütte in Bewegung.
    »Rühren Sie sich nicht von der Stelle!«
    Mariahs zornbebende Stimme lässt ihn innehalten. Ian dreht sich um und räuspert sich. »Sie kommt wieder in Ordnung«, sagt er gepresst. »Sie war nur ein paar Sekunden unter Wasser.«
    Aber so leicht lässt Mariah ihn nicht davonkommen. »Wie konnten Sie es wagen, sie ohne meine Erlaubnis an den See mitzunehmen?«
    »Also, ich …«
    »Haben Sie darauf gewartet, dass ich einschlafe, um sie mit… mit irgendwelchen Süßigkeiten aus dem Haus zu locken und mit Fragen zu löchern? Haben Sie Ihre kostbare Aufnahme bekommen? Oder haben Sie vergessen, den Recorder aus der Tasche zu nehmen, bevor Sie ins Wasser gesprungen sind?«
    Ian fühlt, wie er ungewollt die Zähne bleckt. »Zu Ihrer Information: das Einzige, was ich ihre Tochter gefragt habe, ist, ob ihr Papa ihr gezeigt hat, wie man eine Angelleine auswirft. Ich habe kein Wort von unserer Unterhaltung aufgezeichnet. Sie ist durch einen dummen Unfall in den See gefallen und unter den Steg geraten. Ich bin ihr nur hinterhergesprungen.«
    »Sie wäre nicht unter den Steg geraten, wenn sie sich nicht vorher darauf befunden hätte! Woher soll ich wissen, ob Sie sie nicht sogar ins Wasser gestoßen haben?«
    Ians Augen funkeln vor Zorn. Ist das der Dank dafür, dass er das Mädchen gerettet hat? Schweratmend weicht er einen Schritt zurück. »Woher sollte ich wissen, dass sie nicht über das Wasser laufen kann?«
     
    Lange nachdem Mariah Faith heiße Suppe eingeflößt, sie gebadet und zu Bett gebracht hat, ist Ian immer noch nicht zurückgekehrt. Ruhelos wandert sie durch die Hütte und starrt blind auf den Schnee im Fernsehen. Sie möchte sich bei ihm entschuldigen. Nachdem sie beide Zeit hatten, sich zu beruhigen, muss ihm doch klar sein, dass die pure Angst aus ihr gesprochen hat, aber das würde sie ihm auch gerne persönlich sagen. Immerhin hätte Faith auch allein zum Steg laufen, ins Wasser fallen und ertrinken können.
    Sie wartet, bis ihre Tochter tief und fest schläft, und setzt sich dann auf die Bettkante. Mariah streicht ihr sanft mit einer Hand über die Wange, die sich warm und weich anfühlt wie ein reifer Pfirsich. Wie schaffen es andere Mütter, ihre Kinder immer im Auge zu behalten? Wie können sie die Augen schließen und sicher sein, dass nicht in eben diesem Moment etwas passiert? Das eisigkalte Wasser hätte Faith ernsthaft schaden können, aber glücklicherweise scheint sie das unfreiwillige Bad gut überstanden zu haben.
    Und ihr Gott hat Faith nicht aus dem Wasser gezogen, das hat Ian ganz allein getan. Und zumindest dafür ist Mariah ihm zu Dank verpflichtet.
    Plötzlich gleitet Scheinwerferlicht durch den Raum. Sie verlässt das Schlafzimmer, geht zur Haustür und wartet, dass Ian hereinkommt. Aber eine Minute verstreicht, dann noch eine, und schließlich sind es fünf. Sie wirft einen Blick aus dem Fenster: ja, der Wagen ist da. Dann öffnet sie die Tür.
    Ian sitzt vor ihren Füßen. Er lehnt an der Tür. »Es tut mir leid«, sagt Mariah betreten und errötet.
    »Schon gut. Ist ja auch ein blöder Ort, um sich hinzusetzen.«
    Sie blicken in den Nachthimmel, auf die morsche Veranda, die abblätternde Farbe auf der Tür, überallhin, und vermeiden es dabei tunlichst,

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