Die Wahrheit der letzten Stunde
stadteinwärts Ausschau nach etwas, das auch nur im Entferntesten aussieht wie ein Taxi. Aber stattdessen kommt ein Wagen aus der entgegengesetzten Richtung angeschossen und bleibt dicht vor ihr stehen.
Ian steigt auf der Beifahrerseite aus, froh, dass er Mariah und Faith gesehen hat. »Hallo.« Er lächelt Mariah an. »Brauchen Sie vielleicht eine Mitfahrgelegenheit, junge Frau?«
»Ich hoffe, Sie haben Rosen mitgebracht, Bruder«, bemerkt der Tankstellenangestellte. »Man lässt eine Frau nicht warten.«
Ian lächelt verwirrt weiter und muss daran denken, dass Faith ihm einmal gesagt hat, dass ihre Mutter von Rosen niesen muss. Ehe Mariah sie zurückhalten kann, steigt Faith hinten in den Wagen und entdeckt dort den Stapel Einkaufstüten. »Was ist das?«
»Geschenke. Für dich und deine Mami.«
Faith zieht die Leggings mit dem passenden Tweety-T-Shirt aus einer Tüte, eine Packung Haarspangen und ein Sweatshirt mit Herzchen entlang des Halsausschnitts. Als Nächstes fördert sie ein Hemd zutage, das ganz offensichtlich für Mariah bestimmt ist.
Das war es, was er heute morgen zu erledigen hatte? Für sie alle etwas zum Anziehen kaufen?
»Ich schätze, das Taxi brauchen Sie jetzt nicht mehr«, sagt der Tankwart. »Ich rufe die Taxizentrale an.«
»Das wäre … wirklich sehr nett«, bringt Mariah mühsam hervor.
Ian winkt dem Mann und setzt sich wieder ans Steuer. Mariah nimmt vorne auf dem Beifahrersitz Platz. »Sie waren bestimmt unterwegs zu einem kleinen Stadtbummel«, sagt er neutral. »Ich habe Sie zufällig im Vorbeifahren gesehen.«
»Gut so, ich hatte nämlich keine Lust mehr zu laufen«, lässt Faith aus dem Fond verlauten.
Mariah versucht, einen Vorwurf aus seinen Worten herauszuhören, versucht, ihn als den Mann zu sehen, als den sie ihn zuvor eingeschätzt hat. Er wendet sich ihr zu. »Selbstverständlich kann ich auch nur Faith zurückfahren und auf sie aufpassen, wenn Sie immer noch gerne bummeln gehen möchten.«
»Nein«, sagt sie ebenso zu ihm wie zu sich selbst. »Schon gut.«
New Canaan, New Hampshire, 22. Oktober 1999
Manche gaben die Schuld dem Taxifahrer, der den jungen Vater Rourke zum Bahnhof brachte. Andere meinten, ganz offensichtlich hätte hier ein neugieriger Reporter seine Hände im Spiel. Monate später wusste niemand mehr genau, wie Einzelheiten aus den Priesterakten den Menschen vor dem White-Haus bekannt wurden, aber plötzlich wussten sie alle, dass der Gott, den Faith White sah, weiblich war.
Der drei Spalten umfassende Bericht des Reporters von Associated Press erschien in zahlreichen Zeitungen von LA. bis New York. Jay Leno hielt einen respektlosen Monolog über einen weiblichen Jesus, der sich Sorgen mache, ob eine Dornenkrone auch in Mode sei. Eine neue Gruppe weiblicher Anhänger traf vor dem White-Haus ein und ließ sich von der Neuigkeit um Faith’ Abwesenheit ihren Enthusiasmus nicht weiter dämpfen. Sie waren etwa einhundert und kamen aus katholischen Colleges und Damen-Kirchenvereinen oder unterrichteten sogar an Gemeindeschulen. Einige von ihnen hatten darum gekämpft, zu Priesterinnen geweiht zu werden, aber vergeblich. Bewaffnet mit Bibeln und Texten von Naomi Wolf entrollten sie ein eilig gemaltes Banner der MOTHERGOD SOCIETY und sangen sehr laut im Chor das Vaterunser, wobei sie alle Pronomen entsprechend änderten. Sie hielten Plakate in die Höhe mit retouchierten Photos, die aussahen wie Heiligenbilder, und andere mit der Aufschrift WEITER SO, MÄDCHEN!
Sie waren eine eingeschworene, raue Gemeinschaft, ähnlich wie ein Damen-Eishockeyteam, wenngleich die meisten anderen Gläubigen, die entlang des Grundstücks campierten, sie nicht als gefährlich einstuften.
Aber sie konnten auch nicht wissen, dass die Mother-God Society weitere hundert Mitglieder in die Städte entlang der Ostküste entsandt hatte, die Pamphlete verteilten mit dem umgeschriebenen Vaterunser und dazu Faith Whites Namen und Adresse.
Manchester, NH - 22. Oktober 1999
»Was im Namen des heiligen Franziskus ist denn das?«, fragt Bischof Andrews und zuckt vor dem rosa Flugblatt zurück, als wäre es eine Klapperschlange. »Unsere Mutter, die Du bist im Himmel? Wer ist für diesen Müll verantwortlich?«
»Eine neue katholische Vereinigung, Eure Exzellenz«, beantwortete Vater DeSoto seine Frage. »Sie verehren ein Mädchen aus New Hampshire, das angeblich Gott gesehen hat.«
»Warum kommt mir das bekannt vor?«
»Weil Sie vor einer Woche mit Monsignore
Weitere Kostenlose Bücher