Die Wahrheit der letzten Stunde
einander anzusehen. »Ich meine damit, dass es mir wirklich leid tut.«
»Mir auch. Es war ja nicht das erste Mal, dass ich in Bezug auf Faith etwas getan habe, ohne vorher Ihre Erlaubnis einzuholen.« Ian massiert sich mit einer Hand den Nacken. »Aber das Angeln hat ihr Spaß gemacht. Bis zu dem Augenblick, als sie ins Wasser gefallen ist jedenfalls.«
Sie sehen beide wieder Faith mit dem Barsch in den Armen vor sich, und dieses Bild spannt eine Brücke zwischen ihnen. Mariah lässt sich neben Ian zu Boden gleiten und zeichnet geistesabwesend einen Kreis in den Staub auf der Veranda. »Ich bin es nicht gewohnt, sie aus den Augen zu lassen«, gesteht sie. »Ich tue mich sehr schwer damit.«
»Sie sind eine gute Mutter.«
Mariah schüttelt den Kopf. »Könnte gut sein, dass Sie mit dieser Meinung ziemlich allein dastehen.«
»Das bezweifle ich. Ich wette, da drin ist ein kleines Mädchen, das genauso denkt.« Er lehnt sich gegen die Hüttenwand. »Ich schätze, ich muss mich auch bei Ihnen entschuldigen. Sie haben mich wütend gemacht, sonst hätte ich das mit Faith und dem Auf-dem-Wasser-Laufen nie gesagt.«
Mariah denkt einen Moment über seine Worte nach. »Wissen Sie«, sagt sie schließlich, »ich wollte ebenso wenig wie Sie, dass sie zu einer … einer Art Messias-Figur wird.«
»Was wollen Sie dann?«
Sie atmet tief durch. »Ich möchte, dass sie in Sicherheit ist. Ich möchte, dass sie nur mir gehört.«
Keiner von beiden spricht den Gedanken aus, der ihnen durch den Sinn geht: dass diese Wünsche sich möglicherweise nicht beide erfüllen werden. »Schläft sie jetzt?«
»Ja.« Mariah blickt auf die Haustür. »Sie ist ohne Widerworte zu Bett gegangen.« Ian winkelt ein Knie an und stützt locker ein Handgelenk darauf. Mariah fragt sich, was sie wohl in diesem Augenblick empfinden würde, wenn sie Ian nicht in einem Krieg um religiöse Überzeugungen kennen gelernt hätte, sondern in einem anderen, alltäglichen Zusammenhang, wenn er beispielsweise im Supermarkt ihre Geldbörse aufgehoben oder ihr im Bus seinen Sitzplatz überlassen hätte. Ihre Gedanken befassen sich mit Dingen, die sie bislang bewusst übersehen hat, wie sein rabenschwarzes Haar und das leuchtende Blau seiner Augen, und sie muss auch wieder daran denken, wie er sie im Krankenhaus auf die Wange geküsst hat.
»Wissen Sie«, sagt er leise, »sogar in den beiden Weltkriegen wurde über Weihnachten eine Waffenruhe vereinbart.«
»Ich verstehe nicht.«
»Ein Waffenstillstand, Mariah«, sagt Ian, und ihr Name kommt ihm weich wie Honig über die Lippen. »Ich meine, wir könnten vielleicht hier und jetzt gewisse Zweifel einräumen hinsichtlich unserer Ansichten über den anderen. Sie wissen schon, im Zweifel für den Angeklagten.« Er lächelt sie an. »Wahrscheinlich bin ich nur halb so schlimm, wie Sie glauben.«
Sie erwidert das Lächeln. »Stellen Sie Ihr Licht nicht unter den Scheffel.«
Hierauf lacht er laut auf, und in dieser Sekunde erkennt Mariah, dass Ian Fletcher schon einschüchternd ist, wenn er ein grimmiges Gesicht macht, er einem aber richtig Angst machen kann, wenn er sich ganz natürlich und unbefangen gibt.
Mitten in der Nacht, als Faith und Mariah längst schlafen, schleicht Ian sich in ihr Zimmer. Mit dem feierlichen Ernst eines Mannes, der an einem Abgrund steht, steht er am Rand des Bettes und blickt auf sie hinab. Mariah hält Faith in den Armen wie Kuchenteig in einem Rührbesen. Ihrer beider Haar hat sich auf dem Kissen vermischt. Von dort, wo er steht, scheint es fast so, als wären es nicht zwei verschiedene Menschen, sondern nur zwei Inkarnationen derselben Person.
Der Abend ist in Anbetracht seines Wutausbruchs am See besser gelaufen als erwartet. Der Waffenstillstand ist ein Zeitgewinn und wird Mariah dazu bewegen, ihm eher zu vertrauen. Und natürlich wird er so tun müssen, als würde er ihr vertrauen - was ihm in gewisser Weise viel zu leicht fällt, verdammt. Manchmal sieht sie aus wie jede andere Mutter, und Faith sieht aus wie ein ganz normales kleines Mädchen. Bis man dieser Mischung Gott hinzufügt.
Lake Perry, Kansas - 23. Oktober 1999
Faith setzt sich beim Frühstück neben Mr. Fletcher und beobachtet ihre Mutter, die sich in der Küche zu schaffen macht. »Heute Morgen haben wir die Wahl zwischen Cheerios, Cheerios und, falls ihr die lieber mögt, Cheerios«, sagt ihre Mutter gutgelaunt.
»Dann nehme ich Cheerios.« Mr. Fletcher lächelt zu ihrer Mutter auf, und Faith
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