Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
Informatiker der London University, Wesentliches danken. Wie läßt sich Heideggers Gestell verwinden? 2007, hier und heute? Kann die Gefahr – mit Hölderlin – uns retten? Ja nein, nein ja. Solange wir – Konzernen wie der IBM und Microsoft ergeben – Computer immer nur top-down entwerfen, von Bill Gates’ Geschäftskalkül hinunter zu den vielen Einzelteilen, treiben wir (Männer, Programmierknechte, Stanford-Studenten) bloß Mimesis, ja Mimikry an jenen einen Gott, der ohne jede Frau und Liebe als Schöpfer auszukommen glaubt. Wundern wir uns daher nicht, wenn die Computer sich mit Bugs und Lügen rächen. Würden wirsie nämlich liebevoller bottom-up entwerfen, würde vieles anders. Wir könnten zwar nicht mehr Milliarden Dollar mit der Lüge namens Software scheffeln, doch HAL empfinge von uns Programmierern – streng nach Turing [9] – nacheinander Sinne, Muskeln und ein Herz. Computer wären Embryonen, die in einem Mutterschoß (um mit Homer zu rechnen) zehn lange Monde wachsen und gedeihen. Dann geben wir sie frei – wie jeder Mutterschoß sein Kind.
Vor Liebe zu Penelope fährt Odysseus heim. Wir wissen nicht, ob sie ihn liebt.
Mediengeschichte als Wahrheitsereignis
Zur Singularität von Friedrich A. Kittlers Werk
Ein Nachwort von Hans Ulrich Gumbrecht [1]
Als Friedrich A. Kittler am 18. Oktober 2011 in seinem neunundsechzigsten Lebensjahr starb, waren die Reaktionen der intellektuellen deutschen Öffentlichkeit zahlreicher, ausführlicher und in ihrem Ton existentiell engagierter als beim Tod irgendeines anderen Geisteswissenschaftlers seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Weil Kittler einerseits bedingungslos bewundert wurde, man ihn aber andererseits bis ans Ende seines Werks und seines Lebens mit nicht nachlassender akademischer Skepsis konfrontierte, überraschte mich die Einhelligkeit, mit der man nun plötzlich aus der Retrospektive seine singuläre Bedeutung allenthalben feierte. Gewiß, zum Teil hatte diese Wirkung mit einer eigentümlich tautologischen Situation zu tun, in der ›die Medien‹ auf das Ableben jenes Gelehrten und Autors reagierten, der eben ›den Medien‹ einen Ort in der intellektuellen wie in der akademischen Landschaft erdacht und erschrieben hatte. Doch hinzu kam der Eindruck, daß das ja unvermeidlich monumentalisierende Ereignis des Todes zum ersten Mal – und vielleicht zunächst bloß vorübergehend – die Struktur, Komplexität und besondere Bedeutung von Kittlers Werk in der Simultaneität seiner verschiedenen Dimensionen hatte aufscheinen lassen; zunächst noch eher als Ahnung und Versprechen von einer spezifischen Wahrheit, die sich aus der Technik unserer Gegenwart und ihrer Vorgeschichte ergeben könnte, denn im Sinn einer konturierten Einsicht oder These.
Kittler hatte ja nicht nur eine neue Wissenschaft erfunden – wenigstens für die deutsche akademische Welt. Seine Bücher und Vorträge waren zugleich – im weniger strikt nationalen Rahmen – die Verkörperung einer vor ihm nie gelebten kulturellen Sensibilität, zu der Technikbegeisterung und ein sich als erlesen verstehender literarischer Geschmack gehörten: Mathematik und Psychoanalyse, die Vertrautheit mit Richard Wagners Opern und eine generationsspezifische Begeisterung für Rockmusik, schließlich Faktenhunger, der Anspruch auf Programmierkompetenz und eine ebenso unwiderstehliche wie unendliche Lust an der Spekulation. Selbst wenn in Deutschland heute unentschlossene Erstsemester, die Kittlers Namen nie gehört haben, nicht selten »etwas mit Medien« studieren wollen, wäre dies ohne seinen Einfluß ganz undenkbar.
Unabhängig von der Spannung zwischen begeisterter Beistimmung und aggressiver Ablehnung also, die seine Positionen immer wieder heraufbeschworen hatten, war plötzlich auch sichtbar geworden, was sein Freund und Verleger Raimar Zons bei der Gedenkfeier für Friedrich Kittler, den Emeritus der Medienästhetik und Mediengeschichte an der Humboldt Universität zu Berlin, auf definitive Begriffe brachte: Er hatte zu jenen Menschen gehört, »die die Welt, ihre Welt, durch das, was sie taten, dachten und sprachen, anders verlassen, als sie sie vorgefunden haben«. Aber wodurch genau hat Friedrich Kittler seine – und unsere Welt – verändert, wenn man einmal von der institutionellen Wirkung seines Denkens an der Universität absieht? Was gab seinen intellektuellen Bewunderern (und nicht weniger eigentlich seinen Gegnern) den Eindruck, daß es absolut
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