Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
kommentieren. Zunächst verfolge ich in entstehungsgeschichtlicher Reihenfolge (das heißt: in drei werkinternen Etappen, welche jeweils durch eine Buchpublikation abgeschlossen wurden), die fortschreitende Komplexitätssteigerung seines Denkens, wobei natürlich auch eine spezifisch fokussierte Geschichte der akademisch-intellektuellen Bewegungen in Deutschland zwischen 1978 und 2010 in den Blick kommt. Die so diachronisch erarbeitete Übersicht wird es ermöglichen, die Grundzüge seiner Denkform (oder auch: seine spezifischen epistemologischen Prämissen) zu identifizieren und zu beschreiben, wie sie im Werk nur selten sichtbar werden. Analytisch (»Genealogie«) und synthetisch (»Denkform«) soll damit die Beantwortung der abschließenden und entscheidenden Frage vorbereitet sein (»Wahrheit«), deren seinsgeschichtlicher Status noch erklärt werden muß: Was ist singulär und singulär bedeutsam für unsere Gegenwart und ihre Zukunft am Werk von Friedrich Kittler? Kann sich in diesem Werk die Wahrheit der technischen Welt entbergen?
Genealogie: Literaturgeschichte, Mediengeschichte, Seinsgeschichte
Im kurzen ersten Jahrzehnt seiner Publikationen, die Ende der siebziger Jahre, also erstaunlich spät im Leben eines so produktiven Gelehrten wie Kittler einsetzten, begann sich – lange vor einer spezifischen Konzentration auf den Phänomenbereich der Medien – jene neue Sensibilität im Verhältnis zu den Kulturen der Vergangenheit abzuzeichnen, die vor seinem Werk nicht existiert hatte und die ihreerste Entfaltung in Aufschreibesysteme 1800/1900 fand, seinem 1985 veröffentlichten (noch nicht programmatisch »mediengeschichtlichen«) Meisterwerk. David E. Wellbery hat für die fünf Jahre später veröffentlichte amerikanische Übersetzung ein Vorwort geschrieben, das ich für die beste Erläuterung von Kittlers frühen Arbeiten und zugleich der deutschen geisteswissenschaftlichen Szene am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts halte. Die in ihrem Kontext absolut zu nennende, an keine Vorläufer anschließende Originalität von Kittlers intellektuellem Stil erklärt, warum »Aufschreibesysteme« ihn einerseits im institutionell-akademischen Bereich durchaus die Universitätskarriere hätte kosten können, während ihm andererseits schon die frühen Veröffentlichungen einzigartige nationale Bewunderung und Resonanz einbrachten. Solcher absoluten Innovation und ihren ambivalenten Folgen widerspricht keinesfalls die Tatsache, daß Kittlers frühe Arbeiten zentrale Impulse einer produktiv-eklektischen (und das heißt immer: einer um detaillierte begriffliche Vermittlung und epistemologische Kompatibilität wenig bekümmerten) Rezeption von drei Positionen aus der zeitgenössischen intellektuellen Szene Frankreichs aufgenommen hatten: die Programmatik und Praxis von Michel Foucaults Diskursanalayse als einer neuen historiographischen Form, welche den Gegenstand geschichtlicher Untersuchungen auf institutionalisierte Formen des Sinns begrenzte, die westliche Subjekt-Traditionen als klassische Selbstreferenz-Formen unterlaufende Revision der Freudschen Psychoanalyse durch Jacques Lacan und eine damals innovative Lektüre Friedrich Nietzsches, welche das Motiv einer Nähe von Textualität und Körperlichkeit und eine anti-hegelianische, genealogische Vorstellung historischer Verläufe hervorhob.
Vor allem die Affinität zu Foucault wurde deutlich in Kittlers These von der (primär deutschen) Romantik um 1800 als einer durch bürgerliche Familienstrukturen geprägten diskursiven Konfiguration, in welcher Literatur zum ersten Mal jener Status zukam, der bis heute vor allem mit ihr assoziiert wird, nämlich der Status, Ausdruck einer individuellen Seele zu sein. Als entscheidend für diese Entwicklung wurde die Vorstellung von der physischen und geistigen Zuwendung der Mütter, auch und gerade der Mütter aus gesellschaftlich privilegierten Schichten, zu ihren neugeborenen Kindern gesehen – womit Kittler früh schon eine geschlechtspragmatische Perspektive in seine historische Untersuchung aufnahm. Das zu beschreibende Selbstverständnis der späten aufklärerischen und der frühen romantischen Literatur als Medium bürgerlicher Bildung aber wurde doppelt unterlaufen und sozusagen als Diskurskonfiguration ›entlarvt‹ durch die in Kittlers Synthese entstehende Komplementarität zwischen Lacans Desillusionierung aller Ansprüche der Subjekt-Autonomie einerseits und andererseits Nietzsches Sicht von der Prägung
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