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Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Titel: Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich A. Kittler
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menschlicher Körper durch die Materialität kultureller Artefakte. Aus dieser Konvergenz von Nietzsche, Lacan und Foucault erklärt sich der gegen den klassischen Begriff des ›Geistes‹ und gegen die Hermeneutik (einschließlich der Hermeneutik von Freuds klassischer Psychoanalyse) als Kern der Geisteswissenschaften gerichtete Grund-Affekt von Friedrich Kittlers Werk, der im Titel eines von ihm damals herausgegebenen Sammelbandes emblematisch wurde: die Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften .
    In der Abfolge seiner frühen Essays und (manchmal tatsächlich so, als handelte es sich um einen einzigen fortgeschriebenen Text) vor allem aus ihren jeweiligen Schlußpassagen wird sichtbar, wie jeweils erreichte Konfigurationen von Kittlers historischer Sensibilität immer wieder zu größerer Komplexität gebracht wurden durch die Herausarbeitung neuer Fragen und die Konfrontation mit philosophischen Positionen, welche weiterführende Antworten versprachen. Der auf dem Weg hin zur Medien-Theorie wohl entscheidende Schritt allerdings war kein primär philosophischer. In seiner mittlerweile längst germanistisch-klassisch gewordenen Analyse von Wandrers Nachtlied führte Kittler die Bewegung der Subjekt-Dezentrierung (durch die These, es handle sich bei diesem Text um eine Transkription von Naturlauten und nicht um den Ausdruck eines romantisch-lyrischen Ichs) weiter bis zur Assoziation von Goethes Gedicht mit einer New Yorker Melodie aus dem zwanzigsten Jahrhundert: »Lullaby of Birdland«. Mit dieser Referenz, aber auch mit der Vorstellung von einer direkten, nicht durch Verstehen vermittelten ›Abbildung‹ oder ›Notation‹ von Umweltgeräuschen in Texten (später verwendete Kittler in diesem Zusammenhang regelmäßig das Verb »anschreiben«) überschritt er zum ersten Mal den im engeren Sinn von Bildung und Wissenschaft geistes- und literaturgeschichtlichen Horizont.
    Auf diese Erweiterung der primären Konfiguration von Foucaultscher Diskursanalyse, Lacanscher Anti-Subjektivität undNietzscheanischer Körperlichkeit durch die Rockmusik kam er schon bald in einer Analyse des Pink-Floyd-Songs Brain Damage zurück. Sie endete in der expliziten Zurückweisung des McLuhan-Dogmas von einer Selbstreflexivität, in der das Medium die Botschaft sein soll – zugunsten einer Prägung der Existenz durch Töne und ihre Medien, die wir von Kittlers späterem Werk her durchaus als theologisch inspiriert identifizieren können. In der Musik von Pink Floyd soll sich der »Gott der Ohren«, sollen sich die Götter über die Ohren an die Menschen wenden –, und an dieses Motiv schließlich schloß sich eine weitere Dimension an, mit der, meine ich, die primäre Konfiguration von Kittlers historischer Sensibilität ihre vorläufig definitive Form fand. Das ist die Dimension der – stets in einer Oszillation zwischen ›vermeintlich‹ und ›real‹ präsentierten – Geisteskrankheit (jede Identifizierung von Menschen als ›geisteskrank‹ hängt natürlich ab von einer spezifischen Perspektive). Der Titel Brain Damage sollte zeigen, suggerierte Kittler, daß die musikalische Gegenwart der Götter nicht zu bewältigen ist mit alltäglich-menschlicher Vernunft. Geisteskrankheit kehrt dann bald wieder in Kittlers Entdeckung des schon Sigmund Freud faszinierenden Daniel Paul Schreber und seines Werks von den Denkw ürdigkeiten eines Nervenkranken, dem »berühmtesten aller irren deutschen oder deutschen irren Bücher«. [2] (S. 477) Was vor allem Schreber und seinen behandelnden Arzt, Paul Emil Flechsig, für Kittler interessant machte, war ihre Entschlossenheit, psychologische oder bewußtseinsbezogene Begriffe und Prozesse strikt als somatische Phänomene zu verstehen und zu untersuchen.
    Hier liegt eine weitere Konvergenz mit dem Nietzsche-Motiv der provozierend eindimensionalen, das Bewußtsein ausschließenden Körperlichkeit, und diese Beobachtung ermöglicht es uns, eine produktive Mechanik der Kohärenzbildung in der ersten Phase von Kittlers Theorie-Stil zu sehen. Die verschiedenen, jeweils intrinsisch komplexen Elemente und Positionen, die Kittler eklektisch in seine Weltsicht aufnimmt, sind durch Teil-Affinitäten im Sinn einer Familienverwandtschaft verbunden: Rockmusik und Schrebers Schriften über das Motiv der Geisteskrankheit (zum Beispiel); oder Schreber und Nietzsche durch die Betonung der Körperlichkeit. Aus der erstaunlichen, stets philologisch genau dokumentiertenVielfalt solcher

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