Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Titel: Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich A. Kittler
Vom Netzwerk:
notwendig war, dieses Denken entweder aufzunehmen und fortzusetzen oder zu unterlaufen und zu blockieren?
    Zu den Bedingungen besonderer Intensität in der Rezeption von Kittlers Werk gehörte es, daß er in einer Zeit veröffentlichte, in der viele sich für anspruchsvoll haltende Leser wahre Meisterdenker zu vermissen begannen, und Kittler kam ihrer unvergänglich romantischen Sehnsucht nach Genie-Gestalten entgegen, nicht ganz unbewußt wohl – und jedenfalls frei von Selbstironie. Meistens wirkte er sehr überzeugend und charmant, doch manchmal zugleich fragil und widersprüchlich: durch die zahlreiche, scheinbar heterogene Dimensionen durchmessende Breite seines Wissens und die provokative Kraft seiner zugleich gegenintuitiven und höchst plausiblen Thesen, durch den nie ganz säkularisierten Propheten-Ton seiner absolut indikativischen Thesen und Prognosen sowie durch die tatsächlich erlittene Rolle eines lange Zeit ungeliebten Sohns der akademischen Institution, durch die intellektuelle Kraft, mit der er sich die verschiedensten geistigen Konfigurationen aneignete und in kraftvolle begriffliche Embleme aus eklektischem Ursprung verfugte, und schließlich, vielleicht vor allem, in einer eigentümlichen Souveränität, die sich herausnahm, aus seinem Denken entstehende Zentrifugalbewegungen und intrinsische Widersprüche, statt sie aufzulösen, als intellektuelle Komplexität zu leben. Auf Hegel etwa nahm Kittler zugleich als philosophischen Antagonisten und als philosophisches Vorbild Bezug, und vom Krieg erzählte er sowohl im Ton eines radikalen Pazifismus wie mit schwerem militärhistorischem Pathos. Friedrich Kittler war einerseits mehr als ein traditioneller Gelehrter und ein moderner Professor, aber er fügte sich auch nicht recht den klassischen Rollen des Intellektuellen oder avantgardistischen Autors.
    Die dreiundzwanzig zwischen 1978 und 2010 veröffentlichten Kittler-Essays, welche dieser Band zum ersten Mal zusammenbringt, sollen zwei parallele genealogische Entwicklungslinien sichtbar machen: Zum einen belegen sie durch ihre strikt an der Chronologie der Erstveröffentlichung ausgerichtete Anordnung die Emergenz von Kittlers heterogen-zentrifugaler, aber auch singulär-kohärenter Denk-Figur; damit verwoben entsteht aus den Texten zum anderen aber auch das eigenartige Profil seiner Erzählung von der Technikgeschichte als Kulturgeschichte, wie sie über einen zentralen chronologischen Bruch und eine temporale Gegenbewegung hin ins antike Griechenland am Ende zu einer langfristigen These über die Entstehung unserer elektronischen Gegenwart wurde. Doch es geht in diesem Band um mehr als die Dokumentation, Entfaltung und Erklärung von Friedrich Kittlers Werk, das durch den Tod seines Autors zu einem vergleichsweise frühen und sicher in mancher Hinsicht offenem Ende gekommen ist.
    Ich habe den gewissen und zugleich noch vagen Eindruck erwähnt, daß durch das Ereignis dieses Todes die wegen ihrer Komplexität und ihres Umfangs sonst nur schwer faßbare Bedeutung und die potentielle intellektuelle Funktion von Kittlers Arbeit momentan sichtbar wurden, die mit der Wahrheit der technischen Welt zu tun haben. Die Chance, sie zu nutzen, soll zumindest eröffnet werden. Einmal um zu verhindern, daß die Rezeption seines Denkens für immer, wie es bisher weitgehend der Fall war, eine auf Deutschland beschränkte intellektuelle Bewegung bleibt, und zweitens, um die Möglichkeit offenzuhalten, daß ihr potentieller philosophischer Beitrag für das Verständnis der elektronischen Gegenwart und Zukunft endlich in die Phase einer produktiven Umsetzung eintritt, statt sich zu verflüchtigen. Dabei liegt mir weniger daran, dieses Denken als eine tendenziell dogmatische Struktur weiterzugeben; ich will Kittlers spezifischen intellektuellen Stil, seinen Gestus, seine Gestalt, seinen »Ansatz« (wie Erich Auerbach gesagt hätte) identifizieren und vor allem in seiner oft gegenintuitiven Attraktivität beschreiben. Natürlich werden Friedrich Kittlers Positionen und Provokationen weiterhin vielerlei Kontroversen und Reaktionen der Ablehnung auslösen, aber das zeigt ja nur, daß sich die Auseinandersetzung mit ihnen lohnt. Eher als eine Position zu umschreiben und festzustellen, soll es also darum gehen, eine Denk-Energie spürbar zu machen, um sie lebendig zu halten.
    Um das Potential von Kittlers Werk für zukünftige Diskussionen freizulegen, werde ich seine Texte aus drei komplementären Perspektiven

Weitere Kostenlose Bücher