Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
Kittler Turings Erfindung einschrieb, sollten die Turing-Nachfolge-Maschinen unter dem Namen COLOSSUS ihre eigene Fortentwicklung übernehmen, so »daß COLOSSUS Sohn auf Sohn gebar, jeder kolossaler noch als der geheime Vater« (S. 249).
Einen ausführlichen Essay unter dem Titel »Unconditional Surrender« widmete Friedrich Kittler seiner Überzeugung, daß die Maximierung des Technologie-Transfers aus dem geschlagenen Nazi-Deutschland der in ihrem Status erneuerten amerikanischen Weltmacht bedingungslos wichtig gewesen war – weil auch Deutschland selbststeuernde technische Systeme (freilich keine digitalen Systeme) entwickelt hatte. Wenn hier auf der einen Seite die im Blick auf die historischen Tatsachen wohl etwas forcierte Tendenz deutlich wird, einen deutschen Beitrag zur Eröffnung des Computer-Zeitalters in Anspruch zu nehmen, so erscheint auf der anderen Seite das Verhältnis zwischen dem englischen und dem amerikanischen Entstehungskontext als eine Machtbeziehung mit deutlich moralischem Gefälle. Alan Turings Selbstmord macht Kittler entschlossener, als es die biographischen Forschungen eigentlich erlauben, zu einer Reaktion auf den von der Weltmachtim Zeitalter McCarthys durchgesetzten Entschluß, »Homosexuelle von allen sensitiven Regierungsposten auszuschließen« (S. 232). Vor allem aber wird die – zugleich bewunderte und unter apokalyptischen Vorzeichen angeklagte – Tendenz, Menschen durch selbstgesteuerte Maschinensysteme zu ersetzen, eigentlich am Ende ausschließlich den Vereinigten Staaten zugeschrieben und angelastet: »Auf dem Triumph dieses (in Eisenhowers Worten) militärisch-industriellen Komplexes, der dank Höherer Mathematik über personalintensive Weltkriege wie den Ersten und materialintensive wie den Zweiten hinaus ist, beruht die ›Pax Americana‹« (S. 268).
Jenseits dieses Übergangs zur Computer-Zeit in den Jahren nach Ende des Zweiten Weltkriegs steuert Friedrich Kittlers Mediengeschichte hier auf einen apokalyptischen Nullpunkt zu. Er versuchte zu zeigen, daß Computer und ihre Codes schon in der ersten Phase ihrer angeblichen Unabhängigkeit vom menschlichen Bewußtsein eine Tendenz entwickelt hatten, sich gegen menschliche Interventionen zu immunisieren und also den »Menschen dazu verdammen, Mensch zu bleiben«. Noch einen Schritt weiter ging er in dem berühmt gewordenen Essay »Es gibt keine Software«, in dem der Begriff und die Rede von ›Software‹ als eine gleichsam nostalgische Projektion menschlicher Bewußtseinsstrukturen auf selbststeuernde Systeme entlarvt werden sollten, die angeblich schon einen viel höheren Grad der Unabhängigkeit von Menschen erreicht haben: »Wenn Bedeutungen zu Sätzen, Sätze zu Wörtern, Wörter zu Buchstaben schrumpfen, gibt es auch keine Software« (S. 291). Die Pointe von Kittlers apokalyptischer Teleologie war die Vorstellung, daß für das menschliche Leben entscheidende Veränderungen sehr bald schon allein in der »Siliziumarchitektur« der Computer stattfinden würden, in der »Nacht der Substanz« (so der Titel eines Vortrags, den er 1989 in Bern hielt). Sein zu jener Zeit dunkler als je zuvor oder danach getönter mediengeschichtlicher Diskurs entsprach einer Stimmung, die vor zwanzig Jahren noch verpflichtend für Intellektuelle war, wenn sie eine Sachkompetenz in der Dimension der Elektronik für sich in Anspruch nehmen wollten. Es war die Stimmung derer, die im ›Apple screen‹, der ›mouse‹ und dem Format der ›Personal Computers‹ Symptome der gefährlichen (oder doch zumindest sehr naiven) Illusion sahen, ein ›interface‹ zwischen Menschen und Computern sei möglich; es war eine Stimmung, die – historisch gesehen – wie ein technologischer Nachhall von Jacques Lacans Sarkasmen über allzu optimistische Konzeptionen der menschlichen Handlungsautonomie wirken konnte.
Friedrich Kittler hat von dieser Stimmung (in all ihren Spannungen) nie ganz Abstand genommen und der mediengeschichtlichen Position, die sie markiert, nie explizit abgeschworen. Auf der anderen Seite lag zwischen seinen im Ton besonders radikalen Essays zur Mediengeschichte nach 1945, welche in den frühen und mittleren neunziger Jahren erschienen, und den Schriften zur antiken griechischen Kultur, die ab 1995 das letzte Kapitel seines Werkes eröffneten, eine intellektuell produktive Diskontinuität. Wie läßt sich aber das – für viele Kittler-Leser damals durchaus überraschende – Einklammern der Mediengeschichte der
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