Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
eigenen Zeit erklären? Gewiß steht es nicht für ein Abrücken, für eine Tendenz zur Revision der eigenen Thesen. Felder der Polemik zu räumen war nicht Kittlers Sache, und die Namen ›Apple‹ und ›Jobs‹ blieben für ihn gewiß bis zum Lebensende Embleme eines existentiellen und philosophischen Mißverständnisses. Plausibel scheint mir hingegen die Vermutung, daß die Kälte der eigenen medienhistorischen Gegenwartsdiagnostik Friedrich Kittler selbst unerträglich belastend geworden war, daß sie seine – und nicht nur seine – existentiellen Kräfte überforderte. In diesem Sinn mag ein Symptom für seine Lage darin gelegen haben, daß er in einem Aufsatz aus dem Jahr 1993 von der elektronischen Gegenwart, wie sie in der Mitte seines Jahrhunderts eingesetzt hatte, zum Heldentum der Sturmtruppen aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrte, als man sich dem technologisch neuen Maschinengewehrfeuer unter existentiell-tragischen Voraussetzungen stellte, deren Begriffe in die Meditation von Heideggers Sein und Zeit über die »Jemeinigkeit des Todes« eingegangen sind.
Doch aus der Perspektive des frühen 21. Jahrhunderts erscheint dieses besondere Heldentum nur wie der Beginn eines im wörtlichen Sinn suizidalen Selbst-Entmachtungs-Prozesses der Menschen, in dessen kalter letzter Konsequenz ihre Existenz keinen Wert und kein Versprechen mehr hat – weshalb Auswege und Ausgleiche wie Friedrich Kittlers Sehnsucht nach der griechischen Antike für uns so leicht nachvollziehbar sind. Er war entschlossen, in jener zweieinhalbtausend Jahre vergangenen Welt Liebe zu finden, erotische Liebe, die ihm – wie die Liebe der Götter in den Mythen jener Zeit – durch die gezeugten Kinder einen kosmologischenOrt und existentielle Gewißheit gegeben hätte, einen Ort und eine Gewißheit, die Friedrich Kittler wohl allein in seiner historischen Imagination zu erleben gegeben war. Daß er sich mit dieser Bewegung in eine große – und in ihrem Ansehen durchaus ambivalente – Tradition des deutschen Geisteslebens einschrieb, die spätestens mit Hölderlin begonnen hatte und über Heideggers Werk in seine eigene Welt reichte, liegt auf der Hand. Im Gegensatz zu der auf das lange 19. Jahrhundert konzentrierten frühen Phase ( Aufschreibesysteme ) und zu der mediengeschichtlichen mittleren Phase ( Grammophon Film Typewriter ) seiner Arbeit, hat Friedrich Kittler das intellektuell und existentiell letzte Kapitel seines Lebens nicht über vielstimmige und vielversprechende Auftakt-Sätze hinausgebracht (von Musik und Mathematik , seinem ehrgeizigsten, auf acht Bände angelegten Projekt, wurden nur zwei Bände abgeschlossen). In der meist schroffen und nur manchmal Griechen-frömmelnden Sprache seiner Texte aus jener persönlichen Endzeit zeichnen sich ein Schwinden der physischen Kräfte ab, eine Ungeduld mit Unverständnis oder potentieller Kritik und ein zunehmend in den Vordergrund drängender mythographisch-prophetischer Gestus. Doch ich möchte die späten Abhandlungen durchaus nicht unter einem Vorzeichen der Dekadenz besprechen. Vielmehr sehe ich in ihnen vor allem die Anlage und den Schlüssel zur Bedeutung Friedrich Kittlers für das Denken unserer Gegenwart. Allerdings verlangt sein Spätwerk eine hermeneutische Einstellung (so wenig das Wort ›hermeneutisch‹ Friedrich behagte – und mir bis heute behagt), welche vom Stil der konturierend-synthetisierenden Rekonstruktion in den vorigen Absätzen zumindest graduell verschieden ist. Ich werde also versuchen, in größerer Distanz zur Buchstäblichkeit seiner Texte gerade jene Richtung zu erfassen, in die sich Friedrich Kittlers Denken auf der Schlußgeraden des Werkes bewegte, um ein – wie ich glaube – intellektuell singuläres Potential freilegen zu können (und vielleicht vor dem Vergessen zu bewahren).
Als einen frühen Auftakt in die hellenophile Spätphase von Kittlers Werk läßt sich sein 1995 veröffentlichter Text über »Eros und Aphrodite« lesen, dessen programmatischer Status erst aufscheint, wenn man seinen Ton mit den apokalyptischen Klängen von Texten wie »Protected Mode« oder »Es gibt keine Software« aus den vorausgehenden Jahren vergleicht, wo der kalte, manchmal beinahe zynische Verweis auf die Abhängigkeit der Menschen vonselbststeuernden, gegenüber ihrem Einfluß abgeschotteten technischen Systemen keinen Horizont – nicht einmal die minimalste Hoffnung – von existentiellem Glück beläßt. Im Blick auf Platos
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