Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Titel: Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich A. Kittler
Vom Netzwerk:
Vietnam-Krieg ausgelöste Kritik am »Imperialismus« der Vereinigten Staaten und seine Bewunderung für amerikanische Rockmusiker zu einer spannungsvollen Konvergenz brachte. Mit der Rockmusik aber war bei Friedrich Kittler stets die Erotik als existentielle Dimension aufgerufen, für die in der dunklen, subjektlosen mittleren Phase seines Werks kaum Raum geblieben war: »›And the Gods Made Love‹ heißt denn auch das erste Stück auf Electric Ladyland von Jimi Hendrix. Aber die Herren der Welt haben keine Stimme und keine Ohren mehr wie bei Nietzsche. Man hört nur Tonband-Rauschen, Jet-Lärmpegel und Pistolenschüsse. Auch Kurzwelle, zwischen den Sendern, und das heißt im militärisch-industriellen Komplex, abgehört, klingt ähnlich. Vielleicht muß Liebe unterWeltkriegsbedingungen aus weißem Rauschen kommen« (S. 213). Am Ende, ahnt man an diesem un-entschiedenen Schlußsatz, blieb das Verhältnis von Krieg und Liebe für Kittlers Medienmythos in unerträglicher Ambivalenz gefangen.
    Solche Multidimensionalität und Vielfalt von Anschlußmöglichkeiten, wie sie Friedrich Kittlers Werk in den späten achtziger und frühen neunziger Jahren erreicht hatte, weil er in jede neue Phase seines Denkens geradezu gewissenhaft alle vorher erreichten Positionen einspielte, war damals singulär in der Szene der Geisteswissenschaften und schloß auf Grund ihrer Komplexität jede einspurig-sequentielle Logik der Narration als historiographische Präsentationsform aus. Die Komplexität wurde ermöglicht durch Friedrich Kittlers um Genauigkeit bemühten Blick auf die Phänomene der Technik und zugleich durch seine außergewöhnliche Bereitschaft zur assoziativen Spekulation, die ihm dabei half, Homologien zwischen weit auseinanderliegenden Phänomenbereichen zu entdecken (oder doch zumindest zu postulieren): zwischen romantischer Literatur und der Oper als Gesamtkunstwerk zum Beispiel, zwischen Rockmusik und erotischer Begierde, zwischen Krieg und technologischer Innovation. Das oft im beinahe wörtlichen Sinn magisch, jedenfalls aber mythographisch funktionierende Wort, mit dem Kittler auf solche Homologie-Beobachtungen und Homologie-Postulate verweist, hieß »Klartext« – und stand für einen deiktischen Gestus, der implizieren sollte, daß »alle weiteren« Begründungen oder Erklärungen angesichts einer freigelegten Konstellation von Phänomenen nur tautologisch sein konnten.
    Unter diesen werkinternen Voraussetzungen brachte Friedrich Kittler endlich jene technikgeschichtliche Schwelle in den Blick, welche die Zeit der elektrischen Übertragungsmedien von der Zeit der Computer (und mithin vom Beginn unserer Gegenwart) trennte. Das waren die letzten Jahre des Zweiten Weltkriegs und die Jahre seiner unmittelbaren Folgen. Sowohl auf den abschließenden Seiten des Buchs Grammophon Film Typewriter von 1986 wie in einer Reihe von geschichtlichen Szenebeschreibungen, die bis in die frühen neunziger Jahre reichten und in diesen Band aufgenommen sind, verwies Kittler auf zwei Ursprungs-Kontexte für die nach seiner Sicht aus dem Blockschaltbild der Schreibmaschine hervorgehende und zum Computer führende »Technik der Berechenbarkeit« – und beide waren militärisch. Im Zentrum des einenKontexts stand der von Norbert Wiener entwickelte »Linear Prediction Code«, mit dem die Vorausberechnung von Bewegungen, Abständen und Signalen im Luftkrieg über mathematische Quantitätssteigerung zu einer neuen qualitativen Ebene der Genauigkeit gebracht worden war – mit ihm »gerüstet gingen die USA in den Zweiten Weltkrieg« (S. 230). Aus dem anderen Kontext war Alan Turings »Universale Diskrete Maschine« hervorgegangen, dank deren das englische Militär seit 1941 deutsche Geheimfunksprüche entschlüsseln konnte. Die Konvergenz der beiden technologischen Innovationen war nach Kittler ausschlaggebend für den Ausgang des Weltkriegs – und wurde zugleich als Beginn des Computer-Zeitalters identifiziert. Bei der Darstellung dieser geschichtlichen Situation tritt sein mythographischer Gestus der Assoziation zwischen verschiedenen Wirklichkeits-Dimensionen besonders deutlich hervor. So unterstrich Kittler, daß Turing, einer der wenigen wahren Helden in seiner Mediengeschichte, die entscheidende mathematische Inspiration auf den Grantchester Meadows bei Cambridge hatte, »den Wiesen aller englischen Romantik bis Pink Floyd« (S. 243). Und im Zug des Übergangs von »Menschen oder Soldaten auf Maschinensubjekte«, in den

Weitere Kostenlose Bücher