Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
Beziehungen erwuchs bald ein immer komplexeres und wohl auch immer stabileres Assoziationsnetz, das Kittler in betont indikativischer, oft sogar ›streng wissenschaftlich‹ erscheinender Sprache beschrieb, so als ob es ein materieller Gegenstand sei. Ich sehe in diesem zentripetal-indikativen Gestus einen Anklang an mythographisches Schreiben, das ich als ein Fundament von Kittlers singulärer Position als Historiker und Philosoph herausstellen möchte. Von Mythographie rede ich auch, weil die Wirkungsmacht seiner Texte wohl eher von gegenintuitiven Suggestionen und ästhetischen Qualitäten ihrer Darstellungsformen abhing als von den ›wissenschaftlichen‹ Verfahren empirischer Selbstkontrolle und argumentativer Selbstbestätigung. Indem er beständig neue Texte, Phänomene und Wissensbereiche in sein Denken einarbeitete und dabei auch immer wieder verändernd auf frühere Positionen zurückkam, gab der Mythograph Friedrich Kittler von Beginn seines Werks an dessen eklektischer Komplexität zunehmend deutlichere Konturen von Kohärenz und Gestalt, in denen eine Wirklichkeit zu erscheinen begann.
›Mediengeschichtlich‹ aber in einem thematisch plausiblen Sinn des Begriffs wurden Kittlers Arbeiten erst seit den frühen und mittleren achtziger Jahren, als er zum ersten Mal auf Filme einging (zunächst unter einer eher konventionell scheinenden, stark inhaltsbetonten Perspektive) und das Medium Film immer wieder mit Thomas Pynchons Roman Gravity’s Rainbow aus dem Jahr 1973 (dt.: Die Enden der Parabel , 1981) assoziierte, in dem es um das Ende des Zweiten Weltkriegs und das apokalyptische Potential der deutschen Waffenindustrie geht. Von diesem ersten Moment ihrer Emergenz an war das distinktive Strukturmerkmal von Kittlers Mediengeschichte ihre enge Verbindung zur Militärgeschichte, und daraus entstand bald eine klare Konzeption von drei historischen Phasen in der Abfolge verschiedener Medien-Konfigurationen: »Phase 1, seit dem amerikanischen Bürgerkrieg, entwickelte Speichertechniken für Akustik, Optik und Schrift: Film, Grammophon und das Mensch-Maschinensystem Typewriter. Phase 2, seit dem Ersten Weltkrieg, entwickelte für sämtliche Speicherinhalte die sachgerechten elektrischen Übertragungstechniken: Radio, Fernsehen und ihre geheimen Zwillinge. Phase 3, seit dem Zweiten Weltkrieg, überführte das Blockschaltbild einer Schreibmaschine in die Technik der Berechenbarkeit überhaupt:Turings mathematische Definition von computable numbers gab 1936 kommenden Computern den Namen.« [3] Dies ist jene historische Bewegung, welche das unter dem Titel Grammophon Film Typewriter 1986 erschienene, erste eigentlich mediengeschichtliche und (nach der Zahl seiner Übersetzungen) erfolgreichste Buch von Friedrich Kittler nachzeichnete und von dem ausgehend seine früheren Schriften (vor allem zur deutschen Literatur um 1800) und die Bücher und Aufsätze aus dem späten Teil des Werks (vor allem zur antiken griechischen Kultur) als zwei grundverschiedene Vorläufe zur modernen Mediengeschichte lesbar werden.
Die in ihren Folgen für Kittlers Werk entscheidende Pynchon-Faszination wurde schon in dem 1985 erschienenen Essay »Romantik – Psychoanalyse – Film: Eine Doppelgängergeschichte« deutlich. Obwohl es ihm dort darum ging, anhand von Filmen aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert zu zeigen, wie dieses Medium »ein neues Machtdispositiv trainiert: how to do things without words«, das dem von den Aufschreibesystemen in seiner Genese rekonstruierten romantischen Kult von Literatur als Ausdruck komplexer Individualität ein Ende setzte und »von Mächten handelt, zu denen es selbst zählt« (S. 108), griff Friedrich Kittler in eigentümlicher historischer Ungeduld bereits voraus auf Pynchons Roman von 1973: »Ein paar Schriftsteller des laufenden Jahrhunderts haben es begriffen. Von Meyrinks Golem bis zu Gravity’s Rainbow reicht die Kette einer Phantastik, die nichts mit Hoffmann oder Chamisso und alles mit Filmern zu tun hat. Literatur des Zentralnervensystems in direkter Medienkonkurrenz und deshalb womöglich auch immer schon der Verfilmung bestimmt. Präsentifizieren statt erzählen, simulieren statt beglaubigen – so die Devise.« (S. 109)
Noch im selben, für sein Werk also ausschlaggebenden Jahr 1985 veröffentlichte Kittler dann folgerichtig einen Text, der ausschließlich auf den Autor von Gravity’s Rainbow einging: »Medien und Drogen in Pynchons Zweitem Weltkrieg«. Hier wurde nicht
Weitere Kostenlose Bücher