Die Wahrheit des Alligators
mich erpressen?«
»Nein.«
»Was wollt ihr dann also?«
»Dafür sorgen, daß Sie Ihre Rechnung begleichen. Sie haben ausgespielt, werter Professor. Wir legen Ihnen zwei Delikte zur Last: ein falsches Gutachten, das die Verurteilung eines Unschuldigen zur Folge hatte, und den Versuch, ihm den zweiten Mord anzuhängen, den sie selbst verübt haben.«
»Wer seid ihr?« Der Tonfall verriet die Irritation dessen, der nicht duldet, daß sich seinem Willen Hindernisse in den Weg stellen. »Ach, ich glaube, ich habe verstanden: Spießgesellen von Magagnin, diesem Abschaum der Gesellschaft, oder von dieser perversen Hure Belli. Wißt ihr denn nicht, daß die Justiz in diesem Land in Händen der Richter liegt und daß keiner sie ersetzen kann, nicht mal zwei Verbrechervisagen wie ihr?«
»Hört hört«, wandte ich mich an Rossini. »Unser Professor ist Lombroso-Schüler: Er braucht einen Menschen nur anzusehen, und schon weiß er, ob er zu den Guten oder zu den Schlechten gehört.«
»Das spielt keine Rolle, wer wir sind, Artoni«, fuhr ich dann fort. »In dieser Sache kämen Sie vielleicht mit der Justiz der Richter durch. Bei uns dagegen haben Sie keine Chance. Überhaupt keine.«
Er schlug die Augen nieder und versank in hartnäckiges Schweigen. Da stand Benjamino auf, zog eine Rolle Paketklebeband aus der Tasche, knebelte ihn und band ihm die Hände auf den Rücken. Dann beugte er sich zu Artoni hinunter und flüsterte ihm ins Ohr: »Jetzt werden Sie eine für Ihre kriminologischen Untersuchungen interessante Erfahrung machen: Sie werden am eigenen Leib eine Verhörmethode kennenlernen, die sich ein Hauptkommissar im Polizeipräsidium Mailand ausgedacht hat. Hinterläßt keine Spuren, ist aber wirksam, äußerst wirksam.«
Er ging aus dem Zimmer und kam mit zwei dicken Telefonbüchern wieder. Er zog Jacke und Hemd aus, sein Oberkörper war nackt.
»Jetzt lernen wir ein hübsches Mailänder Lied: Crapa Pelada. Kennen Sie es?«
Artoni schüttelte den Kopf. Er fing an zu begreifen und war entsetzt.
Benjamino trällerte munter los, wobei er hinter ihm stehen blieb: » Crapa Pelada la fa i turtéi, ghe na da minga ai so fradei …« Plötzlich hob er die Telefonbücher in die Höhe und ließ sie mit Wucht auf seinen Kopf runtersausen. BAM! Dumpf dröhnte es durch den Raum, und ich fuhr zusammen. Der Gerichtsmediziner steckte den Schlag mit schmerzverzerrtem Gesicht ein, aber Rossini machte weiter. »… I so fradei fan la fritada …« BAM! Noch ein Schlag. »… Ghe na dan minga a la Crapa Pelada …« BAM! Bei jedem Schlag fuhr ich zusammen und hoffte, es wäre der letzte.
Rossini sang schneller und schneller und hüpfte dabei wie ein Besessener um den Schreibtisch herum; jedesmal, wenn er hinter Artoni vorbeikam, versetzte er ihm einen Schlag. Der Mann zog den Kopf ein und wand sich auf dem Stuhl, um den Schlägen auszuweichen, aber mein Freund verfehlte ihn nie. Als er in krampfhaftes Weinen ausbrach, hörte Rossini auf. »Wollen Sie jetzt ein Liedchen singen?«
Diesmal machte er ein Zeichen der Zustimmung, und ich atmete erleichtert auf.
Wir banden ihn los, und ich bot ihm eine Zigarette an, die er mit einem schwachen Kopfschütteln ablehnte. »So hätte das nicht enden dürfen. Wie seid ihr mir auf die Spur gekommen?«
»Das geht Sie überhaupt nichts an. Erzählen Sie uns lieber alles von Beginn an, angefangen beim Prozeß von 1976«, forderte ich ihn auf.
»Dieser verfluchte Prozeß! Er verfolgt mich wie ein Alptraum … so viele Jahre sind seither vergangen, und doch … na gut. Ich wurde beauftragt, die Autopsie der Leiche von Evelina Mocellin Bianchini vorzunehmen und die hämatologische Untersuchung der Kleider des Angeklagten. Letztere konnte ich nicht selbst durchführen, ich war zu der Zeit völlig überlastet. Ich übertrug sie Ferrini, meinem Partner hier in der Praxis … das ist üblich so. Er hatte auch wenig Zeit, und der Fall war bestimmt keiner von denen, die einem Lorbeeren einbringen. Deshalb entschied er sich für die Luminol-Methode, die am schnellsten geht, auch wenn er sie überhaupt zum ersten Mal verwendete. Alles kam dann wieder in meine Hände. Ich unterschrieb das Gutachten und legte es bei Gericht vor. das ist üblich so. Erst nach ein paar Monaten, als der Verhandlungstermin näherrückte, rief mich der beisitzende Richter des Gerichts an, das Magagnins Fall verhandeln würde. Er sagte mir, daß er wegen der fundamentalen Bedeutung des Gutachtens ein paar Dokumente sehen
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