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Die Wahrheit des Blutes

Die Wahrheit des Blutes

Titel: Die Wahrheit des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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etwas ungehobelte Polizist genau der Mann war, nach dem sie immer gesucht hatte. Er tendierte weder zur Pseudoromantik der Franzosen, noch glich er den Muskelprotzen, die im Tokioter Viertel Shibuya ihr Unwesen trieben.
    Durch die Bekanntschaft mit Passan lernte Naoko viel über sich selbst. Merkwürdigerweise gefiel ihr Passans Begeisterung für das traditionelle Japan. Sie selbst interessierte sich schon lange nicht mehr für die alten Geschichten von Samurai und ihrer Lebensphilosophie Bushidō, obwohl sie im Grunde bedauerte, dass diese Kultur mit dem wirtschaftlichen Aufschwung des Landes und der daraus resultierenden Blutleere seiner Bewohner versunken war.
    Mit einem Mal jedoch fand sie alle diese Tugenden in einem robusten Franzosen wieder – einem Athleten mit tiefer Stimme und einem schlecht geschnittenen Anzug, dessen Nähte bei jedem Lachen zu platzen drohten. Auf seine Weise war Passan selbst ein Samurai. Ein Mann, der seinem Staat so treu ergeben war wie die historischen Krieger ihrem Shogun. Seine Worte und sein Wesen enthüllten ihr eine Geradlinigkeit und eine moralische Integrität, die sofort ihr Vertrauen weckten.
    Wie lang war das alles her!
    Und nun wollten sie sich scheiden lassen. Dann wäre sie zwar ohne Schutz, aber frei. Zu den besten Zeiten des japanischen Films in den 1950er-Jahren gab es angeblich keine Stuntmen. Der Grund dafür lag auf der Hand: Kein Schauspieler hätte sich je geweigert, auch gefährliche Actionszenen zu drehen – aus Angst, sein Gesicht zu verlieren.
    Naoko war jetzt bereit, ihr Leben ohne schützendes Netz in Angriff zu nehmen.
    Sie warf einen Blick auf die Küchenuhr. Zwanzig vor acht. Die Kinder mussten geweckt werden.

8
    »Darf ich das noch essen? Eins von Papas Croissants ist noch übrig!«
    »Zu spät. Du hast dir schon die Zähne geputzt.«
    Hiroki hatte Französisch gesprochen, Naoko auf Japanisch geantwortet. Sie kniete vor dem Kleinen auf dem Boden der Garderobe und knöpfte ihm die Jacke zu. Naoko legte großen Wert auf die Zweisprachigkeit ihrer Kinder, doch der Einfluss von Schule, Freunden und Fernsehen ließen die Waage so gut wie immer zugunsten des Französischen ausschlagen. Aber mit diesem Verdruss musste sie nun einmal leben.
    »Und meine Badesachen?«
    Naoko wandte sich zu Shinji um, der beide Daumen unter die Gurte seines Rucksacks geklemmt hatte. Montags gingen die Kinder ins Schwimmbad. Mist! Ohne eine Antwort zu geben, erhob sich Naoko und lief die Treppe hinauf. Dabei stieß sie sich die Hüfte am Geländer. Sie fluchte leise. Plötzlich fiel ihr auf, wie sehr sie dieses eckige, ganz aus Beton bestehende Haus hasste.
    Im Kinderzimmer suchte sie hastig die Badesachen zusammen und stopfte sie in eine Tasche. Sie blickte auf die Uhr. Viertel nach acht. Sie hätten längst vor der Schultür stehen müssen. Naoko geriet ins Schwitzen. Erschrocken dachte sie an ihr Make-up. Nun, das würde warten müssen.
    Um zwei Minuten nach halb neun hielt sie mit quietschenden Bremsen vor dem Collège Jean-Macé in der Rue Carnot. Sie war gefahren wie eine Irre. Im letzten Augenblick schnappte ihr ein anderer Wagen die letzte Parklücke weg.
    »Vollidiot!«, schrie sie.
    Shinji steckte seinen Kopf zwischen den Vordersitzen hindurch.
    »So etwas darf man nicht sagen, Maman.«
    »Entschuldige bitte.«
    Sie hielt in der zweiten Reihe, schaltete die Warnblinkanlage ein, zog den Zündschlüssel ab und sprang aus dem Auto, um die hintere Tür zu öffnen. Oh, diese Hitze!
    »Hopp, hopp, Kinder, raus mit euch«, sagte sie auf Japanisch.
    Mit einem kleinen Jungen an jeder Hand rannte sie zum Schultor. Andere Mütter kamen ebenso schnell angelaufen. In diesem Augenblick entdeckte Naoko das Stäbchen eines Lutschers, das aus Hirokis Brusttasche ragte.
    »Was ist denn das?«
    »Ein Geschenk von Papa«, erwiderte der kleine Junge trotzig.
    »Hast du auch einen bekommen?«, erkundigte sich Naoko bei Shinji.
    Keineswegs eingeschüchtert nickte der Junge.
    »Her damit«, befahl Naoko und streckte die Hand aus.
    Die Kinder gehorchten schmollend. Naoko steckte die Chupa Chups in ihre Tasche.
    »Keine Bonbons, keine Lutscher – so lautet die Regel, und das wisst ihr ganz genau.«
    »Das solltest du Papa sagen«, brummte Shinji.
    Naoko gab beiden einen dicken Kuss und ließ sie laufen. Der Anblick der großen Schulranzen, die auf den schmalen Schultern schwankten, versetzte ihr einen Stich mitten ins Herz. Wieder einmal stellte sie sich die Fragen, die sie Tag und Nacht

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