Die Wahrheit des Blutes
Tonfall. Dann sprach wieder Shigeru. Es war, als ob zwei Tennisspieler sich den Ball auf möglichst höfliche Weise zuspielten.
Schließlich begann Takeshi Ueda zu lachen, und Passan begriff, dass alles umsonst gewesen war. In Japan lacht man, wenn man sich entschuldigt, eine Entschuldigung jedoch ist oft ein Zeichen für Ablehnung. Wahrscheinlich presste der Psychiater gerade ein »Muzukashii« zwischen den Zähnen hervor, was wörtlich übersetzt »Das dürfte schwierig sein« bedeutet und gleichbedeutend ist mit einem europäischen »Nein«.
Passan blickte auf die Uhr. Zwanzig nach neun. Er musste vor zehn hier verschwinden. In diesem Augenblick fiel ihm ein, dass der Arzt Französisch sprach.
»Schluss mit dem Unsinn«, mischte er sich brutal ein.
Der Arzt hob die Augenbrauen. Passan warf die Fotos aus seiner Akte auf den Schreibtisch. Die blutbeschmierte Dusche. Der aufgeschlitzte Hund. Die verstümmelte Leiche von Sandrine. Ueda betrachtete die Bilder. Trotz seiner doppelt zurückhaltenden Art – weder als Psychiater noch als Japaner durfte er Gefühle zeigen – verfehlten sie ihre Wirkung nicht. Seine Wangen wirkten plötzlich eingefallen, und er riss die Augen auf. Schließlich hob er den Kopf.
»Gehören Sie wirklich der französischen Polizei an?«
Passan ahnte, dass er weniger als Polizeibeamter als vielmehr als beunruhigter Ehemann auftreten sollte.
»Ich bin zwar Beamter bei der Pariser Kriminalpolizei, aber dieser Fall hier ist etwas Besonderes. Ich befinde mich auf fremdem Boden und bin daher in keiner Weise zu irgendwelchen Maßnahmen befugt. Hinzu kommt, dass ich persönlich betroffen bin. Das getötete Tier war mein Hund, die in zwei Teile gehackte Frau eine meiner besten Freundinnen. Und wenn Sie mir nicht helfen, wird meine Ehefrau das nächste Opfer.«
Der Psychiater strich sich mit der Hand über den Bart. Der obere Teil seines Gesichtes schien nur noch aus den zwei übergroßen, von Puppenwimpern überschatteten Augen zu bestehen.
»Und Sie verdächtigen Yamada Ayumi?«, fragte er schließlich.
Sein fast akzentfreies Französisch klang ähnlich wie das von Shigeru oder Naoko. Ein unglaublicher Glücksfall hier mitten in Tokio.
»Daran besteht kein Zweifel. Würde es zu ihrer psychischen Verfassung passen?«
Der Arzt zauste nervös seinen Prophetenbart.
»Ja.«
»Wäre sie zu einem Mord in der Lage?«
»Ja.«
»Trotzdem hielten Sie es nicht für nötig, sie einzuweisen?«
Takeshi Ueda schwieg einen Moment. Doch es ging ihm wohl nicht um eine Ausflucht, sondern er musste seine Gedanken ordnen.
»Ich behandele Ayumi schon seit Monaten nicht mehr.«
»Seit wann genau?«
»Seit Ende letzten Jahres. Damals schien sie sich – nun, sagen wir, stabilisiert zu haben. Seit dem Tod ihres Vaters habe ich sie nicht mehr gesehen.«
»Hat sie Sie informiert?«
Ueda nickte.
»Ist das in Japan üblich? Ich meine, seinen Psychiater zur Beerdigung seines Vaters einzuladen?«
»Keineswegs«, lächelte der Arzt. »Es war eine Botschaft.«
»Eine Botschaft?«
»Ich denke … Also, ich glaube, dass sie ihren Vater getötet hat.«
Passan und Shigeru wechselten einen Blick.
»Aber man hat uns von einem Selbstmord erzählt.«
»Das war die offizielle Version. Yamada Kichijiro hat sich erhängt, aber das kann durchaus auch eine Inszenierung gewesen sein. Ayumi ist sehr intelligent.«
»Wurde er obduziert?«
»Nein.«
»Aber warum sollte sie ihren Vater umbringen?«
»Weil auf lange Sicht der Hass immer die Oberhand gewinnt.«
Erneut warf Passan seinem Schwager einen Blick zu. Shigeru hatte erzählt, dass der Witwer nie wieder geheiratet und seine Tochter allein aufgezogen hatte. Eine fast symbiotische Verbindung.
»Könnte Inzest im Spiel sein?«, fragte Passan.
»Absolut nicht. Die Geschichte hat nichts mit Sex zu tun.«
Wieder begann Ueda, mit seinem Bart zu spielen. Es war, als streichele er ein Haustier.
»Ich habe Ayumi kennengelernt, als sie zwölf war. Unmittelbar nach ihrem Selbstmordversuch.«
»Hat sie sich etwa aufgehängt?«
»Nein, sie nahm Medikamente. Damals arbeitete ich in der Klinik Kesatsu Byoin. Ayumi wurde bei uns eingewiesen. Die ersten Kontakte gestalteten sich ziemlich schwierig. Nicht nur wegen ihres Handicaps, sondern weil sie sich völlig verschlossen gab. Ich habe sehr lang gebraucht, ehe ich ihr Vertrauen gewann. Dafür habe ich eigens die Gebärdensprache erlernt.«
Der Psychiater hatte eine tiefe, sehr bedächtige Stimme. Wie ein
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